Ohne Pathos, ohne Sentimentalität lässt die norddeutsche Schriftstellerin Alltag in einem Dorf Revue passieren, deren Bewohner weltergeben ihr Schicksal in einer ebenso schützenden wie bewahrenden Atmosphäre von Ungesagtem und Unaussprechlichem leben. In Rückblenden erzählt die Autorin von stoischen Charakteren, denen die Mittagsstunde heilig war, von skurril Alltäglichem in und vor dem Dorfkrug, von eintöniger Feld- und Hofarbeit, von Störchen auf Dächern und von jahrhundertealten Kastanienbäumen, die in karger Landschaft Schutz vor Sturm und Regen boten. Bis schließlich die Moderne auch auf die buckelige Dorfstraße von Brinkebüll einbiegt und mit rücksichtsloser „Flurbereinigung“ eine Lebenskultur unter Bulldozern zermalmt. „Die Flur bereinigen, als wäre sie verdreckt, als wäre sie ein Fehler oder eine Schuld!“, formuliert Dörte Hansen ihren Nachruf.  Am Ende ihrer mit Schlagertiteln überschriebenen Kapitel stellt sie fest: „Man hat hier als Mensch nicht viel zu melden. Man konnte gern rechts ranfahren, aussteigen, gegen den Wind anbrüllen und Flüche in den Regen schreien, es brachte nichts ein. Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.“

Dörte Hansen: Die 1964 in Husum geborene Autorin studierte Linguistik und war anschließend als Journalistin unter anderem für den NDR tätig. Ihr Erstlingswerk „Altes Land“ erschien 2015 und hielt sich monatelang als Spitzenreiter in der SPIEGEL-Bestsellerliste. Drei Jahre später erscheint ihr zweiter Dorfroman „Mittagsstunde“. Nach 36 Jahren ist die bodenständige Hansen in ihre Heimat nahe Husum zurückgekehrt, wo sie mit Ehemann und Tochter lebt.

ReiseTravel Fact: Zentrale Figur der Hansen´schen „Dorfchronik“ ist der 47-jährige Archäologe und Kieler Hochschullehrer Ingwer Feddersen. In einer Lebenskrise kehrt der ewige Wohngemeinschafts-Schlumpf zurück in sein Heimatdorf. Hier haben ihn Opa und Oma aufgezogen. Seine kauzige Mutter, „de vedreihte“ Marret, wurde mit 17 Jahren von einem Landvermesser geschwängert, konnte mit ihrem Sohn jedoch nichts anfangen.

Dörte Hansen schildert das Dorfleben während der Kinderjahre des kleinen Ingwer, als dessen überforderte Mutter auf klappernden Holzschuhen über die Straße polterte, zu Schlagern tanzte, mit Tieren sprach und prophezeite: „De Welt geiht ünner“. Auf der anderen Handlungsebene begegnet dem Hörer der erwachsene Ingwer als schrulliger Akademiker, der sein Leben nie so richtig in den Griff bekommt, eine Auszeit von der Uni nimmt und sich in Brinkebüll seinen alternden Großeltern widmet: Ella, die an Demenz erkrankt ist und Sönke, der geschundene Kriegsheimkehrer, der tapfer als Wirt im alten Gasthof ausharrt und sich hartnäckig weigert „Hochdüütsch to schnaken“. Hansen zeichnet einen Menschenschlag, wie ihn nur eine der Welt abgewandte, im Irgendwo darbende Provinz formt. Tragik und Schwere, Verlust und Abschied kleidet die Autorin in eine Gesamtkomposition, deren sprachliche Leichtigkeit immer von ein bisschen Melancholie und Seelenwundheit getragen ist: „Ich schau den weißen Wolken nach.“ Hansens „Mittagsstunde“ ist ein nüchtern erzählter zutiefst bewegender Roman, eine virtuos inszenierte Zeitreise ohne sentimentale Heimatduselei. Was dem Genre Heimatroman einen vielleicht neuen Stellenwert in Aussicht stellt.

Wenn Schauspielerin Hannelore Hoger Passagen dieses Buch stellenweise unakzentuiert nuschelnd in verwaschenem Tonfall vorträgt, mag das den Hörgenuss mindern, aber nur unwesentlich.  Ausdrucksstark tritt die Vorleserin dann auf, wenn sie „plattdüütsche“ Passagen rezitiert. Von Manfred Lädtke.

„Mittagsstunde“ von Dörte Hansen, Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkt Str. 28, D-81673 München, 9 CDs, Gesamtspielzeit 11 Std. 31 Min., ISBN: 978-3-8371-4278-5. www.random-house-audio.de

Das Hörbuch kostet im Handel 22 Euro.

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