Zur See

Hannes ältester Sohn Ryckmer war einst Kapitän auf einem Frachtschiff. Bis ihn bei einer Sturmflut auf hoher See eine gewaltige Riesenwelle traumatisierte. Seither reicht es für den Trinker nur noch zum Deckpersonal auf einer Fähre und zur seemännischen Klischeefigur für klickende Touristen-Handys. Hannes Schwester Eske lebt einen Alltagstrott zwischen Pflegearbeit in einem Seniorenheim und täglichen Einkäufen. Sie müht sich, verhassten Touristen aus dem Weg zu gehen. Und dann ist da noch der jüngste Sohn Hendrik. Er ist nie zur See gefahren, sammelt stattdessen am Strand Treibgut, das er zu Figuren zusammenzimmert. Gebilde, die er allesamt selber weder charakterisieren noch interpretieren will und kann. Aber immerhin gelingt dem barfußlaufenden Schrottkünstler ohne jegliche Geschäftsambition und eigenes Zutun das, was Künstler und Galeristen auf dem Festland oft erfolglos anstreben: dass Bildungsbürger ein profanes Nichts mit gedankenschwerem Inhalt füllen und als Kunst definieren. Hannes Mann bleit von alledem unberührt. Er hat sich in ein Naturschutzgebiet in eine klapprige Hütte zurückgezogen und vereinsamt in der Gesellschaft von Vögeln.

Dörte Hansen wurde 1964 in Husum geboren und machte 1984 Abitur. Bevor sie für verschiedene Rundfunkstationen, ein Reisemagazin und später als fest angestellte NDR-Kulturredakteurin arbeitete, studierte sie in Kiel Linguistik, Anglistik, Romanistik und Frisistik (Friesisch). 2015 debütierte sie mit dem Roman „Altes Land“. Ihr zweites Buch „Mittagsstunde“ erschien drei Jahre später und wurde verfilmt. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin lebt mit ihrer Familie in Nordfriesland.

ReiseTravel Fact: In Ihrem Buch folgt Dörte Hansen der Frage, was macht das mit Menschen, deren Lebensentwicklung der Walfang geprägt hat. Was passiert, wenn Lebensgesetze sich im Wandel der Zeit verlieren und nicht mehr gelten? Wie kompatibel sind Saisonbegegnungen zwischen alteingesessenen Insulanern und sonnenhungrigen Festländern, die Ruhe, Badewasser, saubere Luft, etwas Nervenkitzel bei Geschichten über Seefahrt, Sturmflut, Tod und auch ein bisschen sich selbst suchen. Die Schriftstellerin schaut hinter die Zäune aus Walknochen und meistens blank geputzten Fensterscheiben. Beschreibt aus wechselnder Perspektive wie es zu dem kam, was einmal war, und wie Strukturwandel Generationen auf einer Insel verändert. Mit klarer nordischer Sprache schildert Hansen den Verlust von Identität und das schleichende Verschwinden von Heimat. Schnörkellos, kitschfrei, fast ohne Dialoge. Und doch: In jedem Satz spürt der Hörer/Leser die Anziehungskraft, die das Meer auf Dörte Hansen ausübt. Vielleicht bedarf es dieser Bodenständigkeit, um Nebelwände vor der eigenen Haustür zu lichten, um mit ungetrübtem analytischem Durchblick, dem auf den Grund zu gehen, das Menschen Hunderte von Jahren am Meer geprägt hat. Die Schauspielerin Nina Hoss gibt diesem gelungenen rauen und klischeelosen Gesellschaftsroman als Vorleserin ihre Stimme.  Eine „Traumbesetzung“ für das Hörbuch. Von Manfred Lädtke.

Zur See von Dörte Hansen. Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarktstr. 28, D-81673 München. Gelesen von Nina Hoss. 6 CDs. Spielzeit 7 Stunden. ISBN 978-3-8371-6068-0. www.random-house-audio.de Die Printausgabe ist im Verlag Penguin erschienen.

Das Hörbuch kostet im Handel 24 Euro.

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