Dr. jur. Sven Gelbke

Von hinterhältigen und scheinheiligen Testamenten: „Du erbst nur, wenn Du mich sechs Mal im Jahr besuchst“.

Es gibt Testamente, da schlagen selbst Erbrechtsexperten die Hände über den Kopf. So unverschämt ist deren Inhalt. Ob die Geliebte, die für Sex Alleinerbin werden soll, die Tochter, die keinen Mann mit einer anderen Hautfarbe heiraten darf oder der Sohn, der sich von seiner untreuen Ehefrau trennen muss – mit dem Testament mischt sich so mancher Erblasser mehr in die Lebensführung seiner Verwandten ein als diesen lieb ist und dem Rechtsstaat teuer sein darf.

Natürlich soll jeder Mensch in einem demokratischen Rechtsstaat frei sein, sein Vermögen nach eigener Überzeugung zu vererben – auch wenn sie anstößig ist.

„Der Erblasser kann jemanden auch aus religiösen, politischen oder sogar moralisch sehr schwierigeren Gründen enterben. Ihn trifft wegen der Testierfreiheit keine Pflicht zur Gleichbehandlung. Er darf auch willkürlich Personen als Erben einsetzen oder ausschließen“, erklärt Rechtsanwalt Dr. Sven Gelbke, Geschäftsführer des Erbrechtsportals „Die Erbschützer“.

Der anständige Durchschnittsmensch zählt

Doch jede Freiheit hat im demokratischen Rechtsstaat irgendwo ihre Grenzen. Verstößt das Testament gegen das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“, ist es sittenwidrig und damit unwirksam, wie die Juristen sagen. „Irrelevant bleiben dabei sowohl überzogene Anschauungen elitärer Kreise als auch laxe Moralvorstellungen meinungsschwacher Zeitgenossen. Juristisch entscheidend ist die Auffassung des anständigen Durchschnittsmenschen“, bringt es Sven Gelbke auf den Punkt.

Im Zweifel für die Testierfreiheit

Daran gemessen ist so manches Urteil umstritten, das deutsche Gerichte zu sittenwidrigen Testamenten entschieden haben. So soll ein Testament nach Ansicht des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main bereits dann sittenwidrig sein, wenn der Opa seine minderjährigen Enkel als Miterben einsetzt, vorausgesetzt, sie besuchen ihn sechs Mal im Jahr. Und der Bundesgerichtshof hält ein Testament bereits dann für sittenwidrig, wenn der Erblasser seinen Sohn nur erben lassen will, wenn sich dieser von seiner untreuen Frau trennt. Da wird sicher der ein oder andere Durchschnittsbürger Beifall klatschen, anderen wird sauer aufstoßen, dass sich der Erblasser derart penetrant in die Lebensführung seines Sohnes einmischt.

Sven Gelbke bleibt dennoch gelassen: „Von diesen Ausreißer-Urteilen abgesehen kann man von folgender Regel ausgehen: Ist die Meinung zum Testamentsinhalt gespalten, spricht viel dafür, dass das Testament nicht sittenwidrig ist. Es bleibt dann trotz aller Vorbehalte gültig.“

Geliebtentestament hat viele Facetten

Ein typisches Beispiel für die Sittenwidrigkeit eines letzten Willens ist, dass der Erblasser einen Erben zu einer Straftat anstiftet. Beim sogenannten Geliebtentestament muss man unterscheiden: Erfolgt die Erbeinsetzung nur, damit die Geliebte das Verhältnis und den ehebrecherischen Verkehr fortsetzt, ist das Testament wohl trotz inzwischen gelockerter Moralvorstellungen sittenwidrig. Kommen weitere Gründe dazu – Ausgleich für langjährige Freundschaft oder Zusammensein, geleistete Dienste als Haushilfe -  sieht es anders aus. Noch weniger ist von Sittenwidrigkeit auszugehen, wenn die Geliebte nicht Alleinerbin, sondern beispielsweise neben den Kindern und der Frau Miterbin wird.

Freie Entscheidung darf nicht mit materiellen Anreizen untergraben werden

Dass der Vater der Tochter über ein Testament seinen Willen aufzwingen will, welchen Ehegatten diese zu wählen hat, ist zwar nicht aus rassistischen oder religiösen Gründen sittenwidrig. Denn das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gilt nach dessen § 19 Absatz 4 nicht im Erbrecht. Die Sittenwidrigkeit kann sich aber daraus ergeben, dass der Vater seine Tochter unzulässigerweise in ihrer Entschließungsfreiheit beeinträchtigt, indem er ihr materielle Vorteile verspricht, falls sie sich seinen Vorstellungen unterordnet. Hier geht die Vorstellung der meisten Menschen doch in die Richtung, dass zum Beispiel die Wahl des Ehegatten frei von materiellen Erwägungen sein sollte.

Das Nachlassgericht kann ein sittenwidriges Testament auslegen und umdeuten

„Ist das Testament sittenwidrig, muss das nicht heißen, dass die Tochter nach dem Tod des Vaters leer ausgeht. Vielmehr legen die Gerichte solche Testamente aus und prüfen, ob die Erbeinsetzung auch ohne Erfüllung der sittenwidrigen Bedingung wirksam ist. Dann kommt es auf den hypothetischen Willen des Erblassers an“, weiß Rechtsanwalt Dr. Sven Gelbke.

Und das heißt: Die Richter suchen etwa Anhaltspunkte dafür, dass der Vater die Tochter so sehr geliebt hat, dass er sie auch dann zur Erbin gemacht hätte, falls er von der Unwirksamkeit seiner testamentarischen Zumutungen gewusst hätte. Diese postmortale Ohrfeige an den Erblasser dürfte von vielen Menschen als richtig eingeschätzt werden, weil der geschundene Erbe so doch noch zu einem Happy End kommt, ohne sich in seiner Lebenseinstellung verbiegen zu müssen.

Für Pflegepersonal ist das Testament tabu 

Ebenfalls ungültig ist ein Testament, falls dieses gegen geltende Gesetze und insbesondere gesetzliche Verbote verstößt. Dazu gehört zum Beispiel, wenn der Testator in der letzten Zeit vor dem Tod gepflegt wurde und das Pflegepersonal in seinem Letzten Willen bedenkt. Das steht so in § 14 des Heimgesetzes. Sittenwidrig sind im Übrigen Testamente, bei denen der Begünstigte seinen Einfluss auf einen geistig behinderten oder leicht beeinflussbaren Erblasser dazu missbraucht, sich testamentarisch zum Erben oder Vermächtnisnehmer einsetzen zu lassen.

Sittenwidrig oder nicht sittenwidrig – so haben die Gerichte entschieden: 

1.

Erbausschluss bei nicht ebenbürtiger Ehe oder Abstammung zulässig

Ein Erblasser, dem aus Gründen der Familientradition am Rang seiner Familie nach den Anschauungen des Adels liegt, kann für seinen von der Herkunft der Familie geprägten Nachlass letztwillig wirksam anordnen, dass von seinen Abkömmlingen derjenige nicht sein alleiniger Nacherbe werden kann, der nicht aus einer ebenbürtigen Ehe stammt oder in einer nicht ebenbürtigen Ehe lebt (sog. Erbunfähigkeitsklausel). Auch wenn ein solches Testament oder ein entsprechender Erbvertrag die grundrechtlich geschützte Eheschließungsfreiheit der Kinder des Erblassers verletzt und sie unter Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung nach Abstammung und Herkunft benachteiligt, ist es jedenfalls dann nicht sittenwidrig und unwirksam, wenn der Erblasser von der Testierfreiheit gedeckte, mit dem Nachlass sachlich zusammenhängende Ziele verfolgt. Danach ist es legitim, einen Nachfolger zu finden, der die auf Abstammung bedachte Tradition der Familie repräsentiert und deshalb geeignet erscheint, den Nachlass im Sinne des Erblassers und seiner Vorfahren fortzuführen.

Quelle: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 2.12.1998, Az.: IV ZB 19/97

2.

Die Erbeinsetzung eines Berufsbetreuers ist sittenwidrig

Nutzt ein Berufsbetreuer die Hilflosigkeit des Betreuten gezielt aus, um nur kurze Zeit nach seiner Bestellung seine testamentarische Erbeinsetzung zu erwirken, für die er selbst einen Notar beauftragt und ist er auch bei der Aufnahme des Testaments anwesend, ist das Testament sittenwidrig und nichtig. Dies hat das Oberlandesgericht Celle entschieden und einen Herausgabeanspruch des Nachlasspflegers bestätigt. Ein 85-jähriger Mann hatte nach einem schweren Schlaganfall seine Betreuerin sowie eine weitere Person, die ihm von der Betreuerin für verschiedene Dienstleistungen wie Einkäufe und Spaziergänge vermittelt worden war, zu seinen Erben eingesetzt. Dieses Testament wurde im Beisein der Betreuerin von einer Notarin aufgenommen. Der Wert des Vermögens des Mannes war dort mit 350.000 Euro angegeben.

Die Sittenwidrigkeit der Erbeinsetzung folgt laut der Celler Richter daraus, dass die Betreuerin die von Einsamkeit und Hilflosigkeit geprägte Situation des Erblassers zu ihrem eigenen Vorteil ausgenutzt hat. Das Testament sei kurz nach der Krankenhausentlassung errichtet worden. Trotz der erheblichen Erkrankung habe die Betreuerin keinen ärztlichen Rat eingeholt, ob er überhaupt testierfähig war. Sie selbst habe die Notarin mit der Aufnahme des Testaments beauftragt und sei - ohne zwingenden Grund - bei der gesamten Testamentsaufnahme anwesend gewesen.

Quelle: Oberlandesgericht Celle, Urteil vom 07.01.2021, Az.: 6 U 22/20

3.

Besuchspflicht für Enkelkinder als Bedingung für Erbschaft sittenwidrig

Setzt ein Erblasser erbrechtliche Vermögensvorteile als Druckmittel für zu Lebzeiten durchzuführende Besuche seiner Enkelkinder ein, ist eine an die Besuchspflicht geknüpfte bedingte Erbeinsetzung der Enkel sittenwidrig und damit nichtig. Die Enkel sind aber unter Berücksichtigung des hypothetischen Willens des Erblassers auch ohne Erfüllung der Besuchspflicht Miterben. Dies entschied das Oberlandesgericht Frankfurt am Main.

Der Großvater hatte in einem handschriftlichen Testament seine Ehefrau sowie einen Sohn aus erster Ehe zu jeweils 25 % als Erben eingesetzt. Hinsichtlich der restlichen 50 % hatte er verfügt, dass dieses Geld die beiden Enkel - Kinder eines anderen Sohnes - zu gleichen Teilen bekommen sollten, „aber nur dann, wenn sie mich regelmäßig d. h. mindestens sechsmal im Jahr besuchen ... Sollte das nicht der Fall sein, d. h. mich keiner besuchen, werden die restlichen 50 % des Geldes zwischen meiner Frau ... und meinem Sohn ...aufgeteilt". Diese Erbregelung war den Familienangehörigen zu Lebzeiten des Erblassers bekannt. Die damals minderjährigen Enkel erfüllten die jährliche Besuchszahl nicht.

Quelle: Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Beschluss vom 02.02.2019, Az.: 20 W 98/18

4.

Bedürftigentestament sittenwidrig: Arbeitslosengeld beziehender Sohn muss Testament der Mutter anfechten

Hinterlässt die Mutter ihrem Sohn testamentarisch nur so viel an Vermögen, dass der Sohn weiter Sozialleistungen beziehen kann, ist das sittenwidrig. In dem Fall hatte die Verstorbene ihren arbeitslosen Sohn zum Vorerben des 240.000 Euro schweren Erbes eingesetzt und Dauertestamentsvollstreckung angeordnet. Der Testamentsvollstrecker sollte dem Sohn aus dem Erbe kostenloses Wohnen und bestimmte Leistungen zu gewähren, wie etwa Taschengeld, Geschenke, Urlaub, Kleidung, Hobbies, Vereinsbeiträge, private Krankenversicherung. Das Jobcenter stellte nach dem Erbfall die Zahlung des Arbeitslosengeldes nach SGB II ein. Zu Recht, urteilten die Dortmunder Richter. Der Arbeitslose sei gehalten, „alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit auszuschöpfen“ (§ 2 Abs. 1 SGB II). Dazu gehöre auch die Anfechtung des Testamentes, „weil einiges dafür spricht, dass dieses sittenwidrig ist“. Die Testierfreiheit ginge nicht so weit, dass ein Erbe sämtliche Annehmlichkeiten aus dem Nachlass finanziert erhält, aber der Steuerzahler, für dessen Lebensunterhalt aufkommen muss.

Quelle: Sozialgericht Dortmund, Beschluss vom 25.09.2009, Az.: S 29 AS 309/09 

5.

Behindertentestament: Reiche Eltern müssen ihrem behinderten Kind keinen über den Pflichtteil hinausgehenden Erbteil hinterlassen

Vererben vermögende Eltern ihrem behinderten Kind einen Erbteil mittels eines sogenannten Behindertentestaments in der Weise, dass das Kind auch beim Erbfall weiterhin auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesen ist, ist das Testament nicht bereits deswegen sittenwidrig und nichtig. Dies entschied das Oberlandesgericht Hamm. Der Fall betraf vermögende Eltern dreier Kinder, unter anderem des 40 Jahre alten Sohnes mit einem genetisch bedingten Down-Syndrom. Der Sohn lebt in einem Behindertenwohnheim in Wuppertal und steht unter gesetzlicher Betreuung. Von dem im vorliegenden Verfahren klagenden Landschaftsverband Westfalen-Lippe wird er seit dem Jahre 2002 in seinem Lebensunterhalt mit staatlichen Leistungen unterstützt, die sich bis zum Jahre 2014 auf insgesamt ca. 106.000 Euro beliefen.

Nach dem Tod der Mutter verlangte der Sozialhilfeträger von den Erben den Pflichtteil des behinderten Sohnes heraus, weil das Testament mit der bedingten Erbeinsetzung des Sohnes sittenwidrig sei. Das Oberlandesgericht Hamm widersprach: Das sogenannten Behindertentestament sei nicht sittenwidrig. Ausgehend von der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs könne ein Erblasser im Rahmen seiner Testierfreiheit ein behindertes Kind bei der Erbfolge benachteiligen. Erst das gesetzliche Pflichtteilsrecht begrenzte seine Testierfreiheit. Dem Pflichtteilsrecht genüge das infrage stehende Testament, weil der dem behinderten Sohn zugedachte Erbteil über dem gesetzlichen Pflichtteil liege.

Es gebe keine gesetzliche Vorgabe, die Eltern dazu verpflichteten, einem behinderten Kind jedenfalls ab einer gewissen Größe ihres Vermögens einen über den Pflichtteil hinausgehenden Erbteil zu hinterlassen, damit es nicht ausschließlich der Allgemeinheit zur Last falle. 

Quelle: Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 27.09.2016, Az.: 10 U 13/16

6.

Erlass von Pflichtteilsansprüchen durch behinderten Sozialhilfeempfänger ist wirksam

Ein Vertrag, mit dem ein behinderter Sozialleistungsbezieher nach dem Tod des Vaters gegenüber seiner Mutter auf Pflichtteilsansprüche verzichtet, ist nicht sittenwidrig. Dies hat das Oberlandesgericht Hamm entschieden. Begründung: Auch wenn der Verzicht letztlich zulasten der Allgemeinheit wirke, da der Sozialstaat sich nicht zumindest teilweise die Unterstützungsleistung, die er an den Sohn gezahlt habe, über die Pflichtteilsansprüche zurückholen könne, sei hier das Prinzip des Familienlastenausgleichs zu beachten. Denn die mit der Versorgung, Erziehung und Betreuung von Kindern verbundenen wirtschaftlichen Lasten fielen im Falle behinderter Kinder besonders groß aus und die Eltern leisteten regelmäßig in den ersten Jahrzehnten des Lebens des behinderten Kindes einen so großen Beitrag, dass es gerechtfertigt sei, die Kosten im weiteren Verlauf des Lebens zu einem gewissen Teil von der Allgemeinheit tragen zu lassen.

Quelle: Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 09.11.2021, Az.: 10 U 19/21

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Von Dr. jur. Sven Gelbke

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