Zürich | Weinlese im Tessin Schweiz |
Der Chardonnay muss unter den Füßen und der Zincarlin auf der Zunge prickeln
Mendrisiotto: „Das möchte ich nicht jeden Tag tun müssen“, resümiert Karin nach vier gefüllten Wannen mit Weintrauben und hadert mit ihrem Rücken. In einem der Weinberge von Mendrisiotto hat sie die Reben mit einer scharfen Schere von den Stöcken gelöst, die faulen Trauben aussortiert und die guten in die Wanne gelegt.
Karin ist eigens aus Zürich in den Tessin gereist, um bei der Ernte ihres Chardonnay tatkräftig mitzuhelfen
Um dem Winzer bei der Ernte zu helfen, hat sie ihren Job in Zürich für ein paar Tage ruhen lassen. „Schließlich will man ja dem Getränk auf den Grund gehen, das in keinem Schweizer Weinkeller fehlen darf“, erklärt die Freiwillige und hilft nebenbei einem der Laien, dessen Finger die Schärfe der Schere zu spüren bekamen.
Der Chardonnay gehört zu den Rebsorten, die neben der dominierenden Merlot-Traube im Tessin angebaut werden. Schweizer Wein wird nach wie vor nur selten im deutschen Handel zu finden sein. Nicht etwa, weil er den Kriterien nicht standhält. „Wir produzieren nur für den eigenen Markt. Schon den können wir nicht ganz bedienen“, erzählt mit Carlo Crivelli ein Fachmann auf dem Gebiet der Önologie. Er vermarktet die Erzeugnisse aus den Weinbergen von Mendrisiotto.
Ist die Ernte aus dem Berg eingebracht, beginnt der rituelle Teil der Veranstaltung. In einer Kiste dürfen die freiwilligen Helfer den Wein mit ihren eigenen Füßen quetschen. „Schmeckt gar nicht pilzig oder käsig“, ist eine der ehrenamtlichen Helferinnen erstaunt. Liegt wohl daran, dass die Füße vorher gewaschen werden müssen. Erst dann wird der Most für die Erstverkostung aufgefangen. In einem Zuber für sechs Füße landen unterdessen noch mehr Reben, die bei Beschallung des passenden Songs „Il bisbetico domato“ von Adriano Cellentano aus dem Kultfilm mit deutschen Titel „Der gezähmte Widerspenstige“ von den Protagonisten zerstampft werden.
Der so prickelnde Chardonnay unter den Füßen kann nur ein guter Jahrgang werden, sind sich alle Beteiligten einig.
Dass im Tessin mit sechs Millionen Flaschen Wein pro Jahr ein großer Anteil des verzehrten Weines der Eidgenossen produziert wird, weiß am besten Andrea Rossi.
Auf der Azienda Mondo lädt er die Tessin-Besucher gern zur Degustation der unterschiedlichen Weine der Region ein. Dabei ist der Anteil Merlot mit 80 Prozent der Gesamtmenge die herausragende Traube. In 80 Kellern werden von den 2.700 Winzern des Tessin nur unwesentlich andere Traubensorten gepflegt, zumal 70 Prozent des in der Schweiz getrunkenen Weines Rotwein ist, so der Fachmann aus Sementina. Als kulinarischer Beifang wird den Gästen in aller Regel eine Platte mit deftigen Produkten vom Schwein serviert. Ähnlich den Tiroler Gepflogenheiten dürfen Speck und Salami darauf nicht fehlen.
Ungefragt wird der Gast im Tessin zumeist mit einer Spezialität der Käsereien konfrontiert. Es ist der Zincarlin, der aus Kuh- und etwas zugesetzter Ziegenmilch hergestellt wird. Sein einzigartiger Geschmack soll schon ganz Pilgerscharen, die ihrem Gaumen folgten, in den kleinsten Schweizer Kanton geführt haben, um den würzig-cremigen Käse zu schlemmen.
Wer sich seinem Geschmackssinn im Tessin vollständig ausliefern möchte, kann dies aber auch in Zusammenhang mit sportlichen Leistungen ergänzen. „Bike and Wine Tour“ heißt ein Schlüssel zur Bewegung. „Wir gehen davon aus, dass die Velofahrer nur degustieren“, schränkt Weinhändler Carlo Crivelli den wörtlich genommenen Tatendurst der Radler ein. Es soll allerdings schon vorgekommen sein, dass das verkehrszulässige Verhältnis von Blut und Alkohol in Schieflage geraten ist. Hier sollte wohl jeder Teilnehmer selbst sein Verantwortungsbewusstsein rechtzeitig ordnen.
Derweil in aller Welt derzeit das Getränk Gin in keiner gut sortierten Bar fehlen darf, hat sich auch im Muggiotal eine kleine Gemeinde der Schöpfer dieser Spirituosen zusammen getan.
Martino Mombelli, Giona Meyer, Rupen Nacaroglu und Damiano Merzari haben mit dem „Bisbino“ eine Bio-Variante des edlen Getränks mit ihrer Destille aus der Taufe gehoben.
Am besten lassen sich alle Spezialitäten des einzigartigen Freilichtmuseums Muggiotal bei einer Wanderung erleben. Um den nicht ganz anspruchslosen Fußmarsch von 1.600 auf 900 Höhenmeter hinzulegen, ist man gut beraten, mit der Zahnradbahn aus Capolago hinauf zum Monte Generose zu fahren. Bei Ableistung von 54 Schweizer Franken hat man einen Platz in dem Vehikel gebucht.
In der Zahnradbahn, die von Elisabeth de Ambrosi auf den Monte Generoso chauffiert wird, haben 96 Passagiere einen Sitzplatz
Die erfahrene Pilotin dieser Bahn Elisabeth de Ambrosi und ihre Kollegen lassen den Elektrozug mit seinen vier 200 kW-Motoren die neun Kilometer auf den Berg mit einer Geschwindigkeit von 14 km/h schnurren. Unterbrochen nur durch zwei Haltestationen oder einige unfreiwillige Versuche von Gämsen, Eichhörnchen oder sonstige Regionsbewohner unter die Räder des Zuges zu kommen. Bei der überschaubaren Rasanz des Zug-Tempos lässt sich der Kontrast zwischen den Villen der Besserbemittelten mit Seeblick und die karge Landschaft der Bergbauern eindrucksvoll verinnerlichen.
Von dort aus kann dann der beeindruckende Abstieg erfolgen, gespickt mit uralten Gemäuern vergangener Jahrhunderte. An ihnen lassen sich die Strapazen der Bergbauern im Tessin leicht ablesen. Zu den markantesten Gebäuden der teilweise zu Ruinen zerfallenen Stätten gehören die Neveren. In die tief gegrabenen, von Schieferwänden gesicherten Löcher, schaufelten die Bauern im Winter Schnee, um bis in den Sommer hinein, ihre erzeugten Produkte zu kühlen. Kein Wunder, dass die Zivilisation vor knapp mehr als einem halben Jahrhundert die letzten Bewohner von Kühlschränken überzeugte und ins Tal lockte. Verblieben ist eine traumhafte Landschaft, die als UNECO-Naturerbe anerkannt und unter Schutz gestellt ist.
Traumhaft aber karg – so präsentiert sich die Landschaft des Muggiotals beim Abstieg vom Monte Generoso den Wanderern
Die pyramidenartigen Berge, tiefblauen Seearme und malerischen Dörfer sind aber nicht allein wegen ihrer Schönheit zu einzigartig. In der Landschaft um den Monte San Giorgio hat sich ein El Dorado der Archäologen entwickelt. Der Grund dafür sind die bis zu 230 Millionen Jahre alten Fossilien aus dem Zeitalter des Trias. Einen transparenten Einblick in das Leben dieser Zeit und darüber hinaus bietet das Fossilienmuseum in Meride. Ebenso wie auf dem Monte Generoso mit der Steinblume hat sich der Stararchitekt Mario Botta auch in dem Bau des Museums verwirklicht.
Der Gast, der schon beim Wohnen in der abwechslungsreichen Urlaubsregion einen unvergessenen Blick auf den Luganer See haben möchte, quartiert sich am besten im Hotel Serpiano in gleichnamigem Dorf ein. Da Quartiere im Tessin noch nicht in Hülle und Fülle zu finden sind, ist eine frühzeitige Planung unerlässlich. Im Muggiotal soll die Vakanz ausreichender Gästebetten demnächst beendet werden. Wie die Tourismusverantwortliche Nadia Lupi für Mendrisiotto und Basso Ceresio mitteilt, soll ein Hoteldorf entstehen. Der Bürgermeister der Ortschaft Scudellate hat derzeit noch Glück, dass die Besucher nicht länger als vier Tage buchen. „Wer hier länger als eine Woche bleibt, versteckt sich vor der Polizei“, scherzt er.
Blick aus dem Hotel Serpiano auf den Luganer See
ReiseTravel Service
Region: www.montegeneroso.ch - www.mendrisiottoturismo.ch - www.MySwitzerland.com/hikemontegeneroso
Weine: www.mendrisiottoterroir.ch und www.casadelvinoticino.ch
Ginherstellung: www.bisbino.ch - Restaurantempfehlungen: www.grottograssitremona.ch und www.portopojans.ch
Zahnradbahn: www.montegeneroso.ch
Fossilienmuseum: www.montesangiorgio.org - Hotel: www.serpiano.ch
Ein Beitrag für ReiseTravel mit Fotos von Kurt Sohnemann.
Unser Autor arbeitet als Journalist in Hannover.
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