Mirow | Zwei im selben Boot |
Zwei im selben Boot
Zwei Freundinnen nehmen sich eine Auszeit von der Realität und fliehen in die Unendlichkeit der Mecklenburgischen Seenplatte: Sie sind nur mit einem Boot. einem geringen Urlaubsbudget und einer durchschnittlichen körperlichen Fitness ausgerüstet, dafür aber mit zehn Tagen Zeit und einer gehörigen Portion Abenteuerlust.
Stille. Absolute Stille. Oder doch nicht?
Abermillionen leiser Geräusche erfüllen die Luft wie ein gut eingespieltes Orchester. Die Ohren benötigen Stunden, um zwischen Summen und Brummen, Plätschern und Rascheln unterscheiden zu können. Wasser schlägt stetig gegen den Zweisitzer – Kanadier. Die Stechpaddel zerteilen die Wellen rhythmisch, nur damit sie sich kringelnd und glucksend hinter dem Boot wieder zu einer Fläche vereinen können. Enten schnattern träge, während die Vögel angeregt zwitschernd ihrem Tagesgeschäft nachgehen, Mücken surren in gewohnt penetranter Weise und am Ufer schmatzt gemächlich eine Kuh.
Heute Morgen sind wir zu einer Tour auf Deutschlands größtem Binnenpaddelrevier aufgebrochen. Knapp zwei Stunden von Berlin und Hamburg entfernt erstreckt sich die unendliche Weite des Paradieses für Kanuwanderer, wo weder starke Strömungen noch komplizierte Wehranlagen das Vergnügen erschweren.
In Kratzeburg einen Kanadier inklusive drei wasserdichten Tonnen geliehen. Diese werden unseren Kleiderschrank, die Küche und einen Stauraum für das Zelt ersetzen. Kratzeburg liegt im Quellgebiet der Havel, die ab unserem Ausgangspunkt, dem Käbelicksee, für Wasserwanderer befahrbar ist. Von hier aus soll uns die Reise Richtung Süden zur Schleuse Wesenberg führen, um dann in einem Bogen nordwestlich in der Müritz zu enden.
Wir kommen gut voran, aber für die Schönheit der Landschaft fehlt uns der Blick. Die untrainierten Arme beginnen bereits am frühen Nachmittag zu schmerzen und es fühlt sich ein wenig an wie ein Trainingscamp für Großstadttussen.
Wohl gemerkt, sind freiwillig hier.
Nach Stunden erreichen wir den Campingplatz „Hexenwäldchen“ am Jamelsee. Wir sind froh, als das Zelt aufgebaut ist, das Wasser für das Fertignudelprodukt im Plastikbecher brodelt und wir unsere Beine ausstrecken können.
Hypnotisiert starren wir in einen Sonnenuntergang der Extraklasse. Nachts schlafen wir tief und traumlos, hören weder die sechsköpfige Familie im Nachbarzelt, noch die lang andauernden Gesangsübungen einer gemischten Chorgruppe.
Dafür weckt uns am nächsten Morgen ein schmetterndes: „Im Frühtau zu Berge, wir geh’n, fallera!“ Die erste Strophe endet sehr passend mit den Worten „... noch ehe im Tale die Hähne kräh’n.“ Der Chorleiter grüßt zu unseren verschlafenen Gesichtern herüber: „Wünsche einen angenehmen Tag in der Stille und Weite der Natur.“
Dahin entfliehen wir auch nach einem angemessenen Frühstück mit Streuselkuchen vom Kiosk. Die Route führt uns über den Useriner See, den Großen Labussee und den Woblitzsee mit ihren Schilfgürteln und bunten Häuschen am Ufer. Lebendiger muten jedoch die kleinen Kanäle und die Havel an. Wir entdecken ein glasklares Unterwasserschauspiel aus Fischen und Pflanzen wie im Aquarium. Schaukelnde Felder aus Seerosen, ein geschäftiger Eisvogel, der in seiner Brutröhre in der Uferböschung verschwindet – unsere Augen können die Details gar nicht schnell genug aufnehmen.
Der Müritz – Nationalpark und die Naturparke der Mecklenburgischen Seenplatte sind ein ideales Revier für Tiere. Hier trifft man auch seltenen gewordene See- und Fischadler, Rohrdommeln, Kraniche oder Fischotter an. Rund 200 Arten sind auf der von Menschen sehr dünn besiedelten Areal nachgewiesen, allein der Müritz – Nationalpark ist 322 km² groß.
Abends holt uns die Realität auf dem Campingplatz „Havelberge“ am Woblitzsee kurzfristig wieder ein. Dank dem Publikum vor einer Showbühne und den Nutzern des kostenlosen Wireless – LAN fehlt von dünner Besiedlung jede Spur.
In den folgenden beiden Tagen können wir endlich abschalten. Wir lassen uns von der Natur einen einfachen und ursprünglichen Ablauf diktieren. Wir paddeln, baden, hieven unser Kanu an den Umtragestellen zum nächsten Wasserlauf, gehen bei Anbruch der Dunkelheit schlafen und stehen im Morgengrauen wieder auf. Wir entern die von einem Filmteam belagerte Schleuse Wesenberg und biegen in die romantische Schwaanhavel ein, deren Schönheit und Artenvielfalt uns überwältigt. Unser Natur- und Pflanzenführer sieht schon bald abgegriffen und zerfetzt aus. Unterwegs erzählt uns ein Mann von der DDR – Zeit im Müritz – Nationalpark: „Das wurde produktionsintegrierender Naturschutz genannt, was die da machten. Karpfenzuchten gab es und militärische Übungen. Die Forstwirtschaft hat zu eintönigen Kiefernwäldern geführt und in der Vergangenheit waren die Wälder das Jagdrevier der hohen Politiker.
Wir erreichen die Kanustation Mirow, wo uns unzählige Kienäpfel das Einrichten eines bequemen Schlaflagers erschweren. Der Platz ist nicht parzelliert und so breiten sich die Zelte der Wasserwanderer wie eine lustige Zwergenstadt zwischen den Bäumen aus. Die roten und grünen Boote der Station tragen kreative Namen wie „Rote Beete“, „Bloody Mary“ und „das Grüne vom Ei“.
Als uns beim Abendessen eine Entenfamilie belagert, beschließen wir zu bleiben und uns das kleine Städtchen Mirow näher anzusehen.
Der Autolärm trifft uns wie ein Schlag in die Magengrube und wir flüchten zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt: auf die Schlossinsel mit einem Schloss aus dem 18. Jahrhundert, zu der verträumten Liebesinsel und auf die Aussichtsplattform der Johanniterkirche mit einem grandiosen Panorama über die Seenplatte. „Mirow ist vom slawischen Wort Miru abgeleitet und bedeutet Frieden“, erklärt uns die Dame in der Touristeninformation.
Inneren Frieden empfinden wir erst im Boot wieder als wir unsere letzte Etappe antreten. Im Gegenzug verlässt uns das herrliche Sommerwetter. Auf der Müritz umzingelt uns ein Chaos aus heftigem Wind, peitschendem Regen und Wellen. Sichtlich begeisterte Surfer rauschen vorbei, einer warnt uns: „Da vorn kommt eine Steinmole, da kommt ihr nicht rüber. Dreht lieber um, sonst kentert ihr!“ Wir entscheiden uns kämpferisch für Regenmäntel und wie bestellt schwappt eine hohe Welle mit uns über die Mole. Ausgepowert erreichen wir den Campingplatz „Boek“. Unter den mitleidigen Blicken der anderen Gäste bauen wir da zum letzten Mal unser Zelt auf, wehmütig über das nahe Ende der Reise. Selbst das Fertignudelprodukt schmeckt heute wie ein Gedicht und der kleine Bach, der sich bald durch das Zelt schlängelt, ist ein lieber Gruß von Mutter Natur. Unsere geschulten Ohren unterscheiden mühelos zwischen prasselnden Regentropfen, grollendem Donner und kreischenden Möwen, als wir uns in die Schlafsäcke kuscheln. Aber mitten in der Nacht taucht sie aus dem Nichts wieder auf: die Stille.
Von Tina Stengle
Die junge Autorin des ReiseTravel Beitrages arbeitet in der Hotel-Branche.
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