Peter Schwerdtmann | Autonomes Fahren |
„Harry, hol‘ schon mal den Wagen!“ Vision vom autonomen Fahren
Das große Miteinander in der Stadt: So schnell ändern sich die Ansichten: es liegt noch gar nicht solange zurück, da sprach man den Begriff „autonomes Fahren“ nur mit Verachtung aus. Seit den ersten Tagen der Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt hat sich das komplett geändert. Auch wenn es noch nicht alle gemerkt haben: Das autonome Fahren ist das wichtigste Thema der IAA, dass die Elektroautos zu Objektivfutter für die Kameras werden lässt.
Vision vom autonomen Fahren
Man hätte es ahnen und bei uns sogar lesen können, weil die neue Mercedes-Benz S-Klasse heute schon nach ein paar Knopfdrücken auf der Autobahn selbsttätig die Spur, den Abstand zum Vordermann und die Geschwindigkeit halten, bis zum Stand bremsen und wieder anfahren kann. Den rückwärtigen und den Querverkehr hat sie ebenfalls im Blick. Und nur alle zehn Sekunden fordert einen das Auto auf, die Hände doch mal wieder ans Lenkrad zu nehmen.
Dennoch waren auch große Wettbewerber von Mercedes-Benz überrascht, als sich Daimler-Chef Dieter Zetsche von einer komplett autonom fahrenden S-Klasse auf die Bühne der Pressekonferenz fahren ließ. Dabei war klar, was die Stuttgarter heute schon können: Die Daimler-Forschung hatte das bereits ein paar Tage vor der Messe mit einer komplett autonomen Fahrt auf den Spuren von Berta Benz von Mannheim nach Pforzheim demonstriert, was aber offenbar in allen Vorstandsetagen noch nicht angekommen war. Man hörte von zumindest einer anschließenden Krisensitzung beim Wettbewerb.
Daimlers-Forschungschef Prof. Dr. Thomas Weber hatte sich schon auf der IAA-Pressekonferenz und auch jetzt wieder bei einem Pressegespräch in Berlin zurückhaltend geäußert: „Ich glaube persönlich, dass wir im Jahr 2020 sehr viel weiter sein können.“ Insgesamt werde es aber „schneller gehen als wir denken“, meint er mit Blick auf die notwendige Technik.
Und wieder einmal ist der technische Fortschritt schneller als die Gesetzgebung. Heute wäre ein autonom fahrendes Auto nicht zulassungsfähig. Das Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr regelt das seit 1968. Da war das ABS gerade serienreif. Seitdem hat sich gerade im Gebiet der Fahrerassistenzsysteme so viel getan, was von den damaligen Regelungen nicht abgedeckt wird, aber dennoch legalisiert wurde. Doch ein Auto ohne Fahrer ist dort nicht vorgesehen. Das Übereinkommen verlangt, das stets ein Fahrer in der Kontrolle bleibt.
Wer autonome Fahrzeuge will, muss also rechtzeitig mit Behörden und Politik reden, denn die Prozesse erfordern viel Zeit. Standards und Regeln müssen wachsen, ebenso wie die Akzeptanz einer solchen Technologie in der Gesellschaft. Deshalb hat Daimler nun auch die „Daimler und Benz-Stiftung“ auf den Plan gerufen. Im Rahmen des „Förderprojekt Villa Ladenburg“ soll sie möglichst alle Aspekte des Fahrens ohne Fahrer auf den Tisch bringen und in die jeweiligen Diskussionsebenen einfließen lassen. Zwei Dutzend Experten rund um das Kernteam arbeiten daran. Das Kernteam selbst besteht aus Prof. Dr. J. Christian Gerdes, Stanford, Prof. Dr. Barbara Lenz, Humboldt-Universität Berlin, Prof. Dr.-Ing. Markus Maurer, Technische Universität Braunschweig und Prof. Dr. Hermann Winner, Technische Universität Darmstadt.
Diese Projektgruppe hat sich viele, auch widersprüchliche Themen vorgenommen. So stellte Markus Maurer fest: „Jede Technik hat eine endliche Zuverlässigkeit.“ Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Christian Gerdes verschärft das Problem noch, indem er die Ethik ins Spiel bringt. Wie entscheiden die Computer zweier autonomer Autos, die aufeinander zurasen? Welchem Fahrer räumen die beiden Computer die bessere Überlebenschance ein, welchen opfern sie? Entscheiden sie zugunsten ihrer Insassen oder zugunsten der Volkswirtschaft? Kein Wunder, das solche Fragestellungen von Christian Gerdes aus den USA kommen. Da hat es Tradition, die Kosten einer Sicherheitstechnik gegen die Kosten der Unfallfolgen abzuwägen.
In jedem Fall hat der Computer beste Chancen, das Steuer zu übernehmen. Schon heute verhindert er Unfälle, und mit dem autonomen Fahren kommt die EU-Vision vom unfallfreien Verkehr in Reichweite, weil dann die Verantwortung vom Fahrer zum Programmierer wandert. Erfüllt er seine Aufgaben, gilt: Der Computer schläft nicht und trinkt nicht. Der Mensch dagegen ist ein schlechter Überwacher. Wenn er durch Routine unterfordert wird, wird er noch schlechter. Markus Maurer: „Es gibt Situationen, in denen es besser wäre, der Fahrer könnte nichts mehr tun.“
Die heutigen Assistenzsysteme wie ABS, ESP, automatische Notbremse und viele mehr handeln schon nach dieser Devise. Bei denen ist akzeptiert, dass der Fahrer von Computer dominiert wird. Auf dem Weg zum autonomen Fahren sind aber weitere technische Voraussetzungen zu erfüllen: Entscheidend genauere Kartographie, Kameras, die Entfernungen messen können, noch mehr Radar- und andere Sensorsysteme und vor allem eine deutlich höhere Rechnerleistung gehören dazu.
Zu teuer aber darf es nicht werden, wenn das autonome Fahren nicht nur den Oberklasse-Fahrzeugen vorbehalten bleiben soll. Thomas Weber peilt über den Daumen: „Für mich darf eine solche automatische Fahrfunktion nicht mehr als 2.000 bis 3.000 Euro extra kosten.“ Für eine „Demokratisierung“ auch dieser Technologie müssen die Preise unter diese Marke sinken.
Das autonome Fahren wird erst richtig spannend im Zusammenspiel mit der Vernetzung des Fahrzeugs mit seiner Umgebung. Dass Car2x und die Kommunikation zwischen den Fahrzeugen (Car2car) bald und flächendeckend funktionieren, erwartet niemand. Alle Systeme werden sich parallel entwickeln müssen. Das autonome Fahrzeug wird zunächst allein zu strampeln haben. Wenn es dann eines Tages so weit ist, lassen sich erstaunliche Szenarien denken. Der Satz „Harry, hol‘ schon mal den Wagen!“ übers Smartphone gesprochen, bekommt eine völlig andere Bedeutung, wenn man seinen Wagen Harry nennt. Der kommt dann autonom vom Parkplatz vorgefahren. Genauso kann ich mir mein Fahrzeug der Wahl aus einem Carsharing-Programm vor die Tür liefern lassen und es anschließend wieder in den „Stall“ schicken.
Da das autonome Fahrzeug alles um sich herum erfasst und bei seinen Entscheidungen berücksichtigt, könnte die Innenstadt der Zukunft ein völlig neues Gesicht bekommen. Feste Straßen für Fahrzeuge brauchen wir nicht mehr, eher werden wir eine Vermischung der Verkehre in der Innenstadt erleben. Scheinwerfer am Auto stören dort nur. Auch die Straßenbeleuchtung kann gedimmt werden. Und leise wird es auch noch sein, weil Plug In-Hybridantriebe und Elektroautos geräuschfrei und vor Ort sogar ohne Emissionen fahren. In dieser schönen neuen Welt der großen Städte gehört das Auto vielleicht nicht einmal mehr uns.
Das ist keine Utopie, sondern ein Blick in die Zukunft, aber die Rollenverteilung ist noch nicht klar. Weber nennt das autonome Fahren eine Chance für Europa „und wir sind mittendrin“. Er nennt aber auch die Risiken. Wenn alle Fragen rund ums autonome Fahren „zuerst in einem anderen Land gelöst werden, dann könnte sich dort auch der Markt entwickeln“. Daimler wolle deswegen vorn bleiben. Und mit einem Seitenblick auf den US-Konzern Google, der schon in wenigen Jahren ein autonom fahrendes Auto anbieten will, fügt Weber hinzu: „Jeder der sagt, in drei Jahren geht es, betreibt ein Spiel mit dem Risiko.“
ReiseTravel Fact: Wo bleibt denn hier der Fahrspaß?, wird sich so mancher fragen, für den das autonome Fahren heute noch einen Albtraum hervorruft. Der Spaß hält sich ja auch heute schon in Grenzen. Die 35 Minuten auf der Bundesstraße 1 zum Potsdamer Platz, wo die Daimler und Benz-Stiftung ein Domizil unterhält, hätte ich gern dem Automaten überlassen. Keine Innenstadt wird in Zukunft noch Anlass zur Fahrfreude bieten. Das Thema verlagert sich – nach außen auf die Landstraßen und Autobahnen und nach innen mit neuer Freude am Auto und seinen Möglichkeiten der Vernetzung und der stillen Kraft der neuen Antriebe.
Ein Kommentar für ReiseTravel von Peter Schwerdtmann, Auto-Medienportal.Net
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