Münster | Münster wie es singt und klingt |
Schaurige Geschichten zwischen fünf Weihnachtsmärkten: Skurriler Spaziergang durch die adventliche Domstadt
Zeitreise nach Münster: Wann ist Münsters schönste Zeit? Im Frühjahr, wenn Boote auf dem Aasee dahingleiten und Radler auf dem grünen Promenadenring die westfälische Stadt umrunden?
Nö, sind die meisten Münsteraner überzeugt. Die Zeit kommt jetzt. Wenn in der Weihnachtszeit der festlich geschmückte Prinzipalmarkt in goldenes Licht getaucht ist, Duft von Backwaren und Gebratenem durch Straßen und Gassen zieht und in den Bogengängen dezent die Adventskränze leuchten. Sieht romantisch aus. Ein romantisches Flair war indes nicht immer Markenzeichen der 1.200 Jahre alten Stadt.
Und so sind auch die Geschichten, die Stadtführerinnen ihren Gästen in der als „Friedenssaal“ bekannt gewordenen Ratskammer im Rathaus erzählen, wenig weihnachtlich. Vor 375 Jahren sei Münsters schönste Immobilie ein stinkender Hof voller Misthaufen und Schweine gewesen, blickt eine Gästeführerin zurück. Vermutlich habe dieser Zustand einen kaiserlichen Gesandten, der den Westfälischen Frieden von 1648 vorzubereiten half, zu der teuflischen Feststellung veranlasst „die Hölle muss leer sein, alle Teufel sind in Münster“. 20 000 Menschen seien damals zu Verhandlungen in die Stadt gekommen, um den 30-jährigen Krieg zu beendeten. 230 Diplomaten insgesamt, aber jeder mit einer „beratendt Bagage“ und einem Gefolge von Dienern, Köchen, eigenem Friseur, Arzt und Beichtvater. Die Wände des Friedenssaals zieren 37 Diplomatenportraits. Allein Henry von Orleans habe 1000 Leute mitgebracht und täglich mit 450 Vertrauten getafelt. Einige der gepuderten und gelockten Herrschaften blicken aus den Bilderrahmen auf einen Wandschrank. Hinter einer Glastür steht der „Goldene Hahn“, dessen Bauch eine Flasche Wein fasst. Hohen Gästen wird der rundliche Gockel heute noch als Ehrenpokal gereicht – und nicht etwa die verdorrte Hand, die seit Jahrhunderten neben dem Gefäß ohne Wissen um ihre Herkunft aufbewahrt wird…Vielleicht zur Abschreckung als schaurige Erinnerung an einen möglichen Unhold, mutmaßt die Stadtführerin.
Am Fuße der spätgotischen Lamberti-Kirche – 75 Meter unterhalb von Martje Thalmanns Turmstube befindet sich einer von fünf Weihnachtsmärkten in Münster
Draußen vor der Tür funkelt ein paar Schritte weiter an der Lamberti-Kirche die große Weihnachtstanne mit 250 Lämpchen. Erster Blickfang ist jedoch eine fast 50 Meter hohe „Himmelsleiter“, die am Kirchturm des imposanten Gotteshauses in den Nachthimmel ragt. Die Installation der Wiener Künstlerin Billi Thanner war vor zwei Jahren noch ein lichtes Element am Stephansdom und soll den Auf- und Abstieg zwischen Himmel und Erde symbolisieren. Ist der Hingucker an der Turmspitze derzeit Münsters beliebteste Fotomotiv, vermittelt der „Rumpf“ der Neonleiter im Innenraum mit seiner Leuchtkraft auch einen Anblick, der tröstet. „Vielleicht muss man sich ja so den Weg aus dem Dunkel ins ewige Licht vorstellen“, überlegt eine betagte Dame.
In der klaren Winterluft am Fuße der Kirche tummeln sich Gäste an Ständen blauer Spitzdachhäuschen und lassen bei dampfendem Grünkohl mit Mettenden den lieben Gott einen frommen Mann sein. Eingerahmt von ehrwürdigen Bogenhäusern ist St. Lamberti einer von insgesamt fünf Weihnachtsmärkten im Stadtkern. Jede der stimmungsvollen Inseln hat ihr individuelles Flair. Ein Lämpchenhimmel erwartet Besucher im Innenhof-Markt des Rathauses. Flankiert von Fachwerkhäusern befindet sich am Denkmal des münsterschen „Kiepenkerls“ ein gemütliches Weihnachtsdorf mit „Hochprozentigem“ und auf den Aegidii-Markt kommen mit Vorliebe Familien zur prächtigen Krippe und dem halbstündigen Glockenspiel.
Am 10. Dezember treffen sich Tausende Menschen auf dem Domplatz zum alljährlichen Weihnachtssingen
Nicht allein ältere Semester, die in der Universitätsstadt studiert haben und nostalgischen Pfaden folgen, zieht es in die engen Studentenkneipen und Lokale des Kuhviertels nahe der Überwasserkirche. Ziel in der Adventszeit sind aber weniger ein „Pilsken mit Korn“ bei „Pinkus Müller“ oder in der „Cavete“ sondern Glühwein und kulinarische Schmankerl des „Giebelshüüskesmarkt“ auf dem Kirchplatz – mit stimmungsvoller Aussicht auf die angestrahlten Türme des gegenüberliegenden mächtigen Doms. Da war doch was? „Unbedingt den 10. Dezember als klangvollen Höhepunkt im münsterschen Advent vormerken“, rät Juliane Unkelbach von Münster Marketing. Dann treffen sich auf dem Domplatz wieder Tausende Menschen und singen von 16.30 bis 17.30 Uhr gemeinsam Weihnachtslieder.
Wer nach dem „Rudelsingen“ am nächsten Tag seine adventliche Stippvisite vor Münsters Giebelfassaden fortsetzt, der sollte am Prinzipalmarkt noch einmal hochgucken. Keine himmlische Botschaft und auch keine weihnachtliche Offenbarung, vielmehr eine Begebenheit von Folter und Grusel verkünden drei unterhalb der symbolträchtigen Himmelsleiter am Lamberti-Turm hängende Eisenkäfige. In der Domstadt rief nämlich der selbsternannte holländische Prophet Jan Matthys 1543 das Reich der „Christlichen Wiedertäufer“ aus. Ein „Himmelreich auf Erden“, ohne Geld aber mit Vielweiberei“ stellte sich der ehemalige Bäcker vor. Kritiker wurden kurzerhand einen Kopf kürzer gemacht. Als bischöfliche Truppen einrückten, ging es den Anführern an den Kragen. „Bey allseytig Zusehn“ ließ der Bischof drei Männer mit glühenden Zangen auf dem Prinzipalmarkt zu Tode foltern. „Schau drei Wiedertäuferkäfige hängen da droben. Und die Gebeine selbst büßen die furchtbare Schuld“, stellte 1644 ein Päpstlicher Nuntius fest, als er die berühmt gewordenen Eisensärge sah.
Nur ein paar Armlängen über den Körben kann Martje Thalmann im Turmstübchen der Lamberti-Kirche mit dem historischen Zeitzeugnis gut leben und steht mit beiden Beinen fest im Himmel. Jeden Tag außer dienstags steigt die Türmerin 298 Stufen hinauf in ihre Turmstube und meldet der Feuerwehr pflichtbewusst „Bin oben!“ Von 21 Uhr bis Mitternacht bläst die höchste Angestellte der Stadtverwaltung dann jede halbe Stunde den Bürgern ins mittelalterliche Horn. „Ein Traumjob“ beschreibt Martje Thalmann die turmhohe Planstelle, auf der sie die 650 Jahre alte münstersche Türmertradition fortsetzt. Die stillen Stunden nutzt die Zeitansagerin seit 14 Jahren für historische Studien, musiziert und schreibt Blogs für interessierte Leser. Früher hatte der Türmer auch feindliche Truppen zu melden, vor allem aber musste er die Einsamkeit aushalten - oder ihr entgehen. Zechgelage und amouröse Abenteuer sind jedoch längst Vergangenheit und nur noch Stoff für münstersche „Dönekes“ (Geschichten). Das Fernbleiben feierfreudiger Gesellen und geselliger Damen mag vielleicht den Unterhaltungswert des gehobenen Amtes geschmälert haben. Es spart aber auch Reinigungskosten. Ein Chemieklo wurde erst 1980 eingerichtet. Schwappte der Eimer über – was bei nächtlichen Eskapaden nicht ausblieb – ging vom Turmbalkon allerlei Unrat auf die braven Bürger nieder.
Ziel zahlreicher Besucher ist die westfälische Stadt in der Vorweihnachtszeit
Mitternacht. Zeit für den letzten Einsatz. Auf dem schmalen Rundgang vor der Kammer pfeift ein kalter Wind die Ouvertüre zu Martje Thalmanns Signalen. Beherzt stößt die Türmerin in ihr Horn und blickt zufrieden in den grauen Nachthimmel. Dann legt sie ihren Wollumhang ab und steigt die Stufen hinab in die Stille der Vorweihnachtszeit.
ReiseTravel Service
Informationen und Rundgänge: www.stadt-muenster.de Stadtführungen historisch, komödiantisch und skurril veranstaltet auch www.stattreisen-muenster.de Der Weihnachtsmarkt im Freilichtmuseum Mühlenhof ist an den ersten drei Adventwochenenden samstags 14-20 Uhr und sonntags 12-19 Uhr geöffnet. www.muehlenhof-muenster.org.
Türmerin: Kontakt zu Martje Thalmann: www.tuermerinvonmuenster.de
Krippenausstellung „Weihnachtsfrieden“: www.museum-telgte.de
Zentrale Unterkünfte: „Hotel Kaiserhof“ www.kaiserhof-muenster.de und Hotel Conti www.hotel-conti.muenster.com direkt am Hautbahnhof.
Essen und Trinken: Typische münstersche Gerichte und Biere gibt es u.a. in den traditionsreichen Restaurants: „Stuhlmacher“, „Altes Gasthaus Leve“, „Pinkus Müller“, „Kiepenkerl“ und „Töddenhoek“.
Literatur: „Münster und Münsterland“, Michael Müller Verlag, 382 Seiten, 19,90 Euro.
Ein Beitrag mit Fotos für ReiseTravel von Manfred Lädtke.
Unser Autor lebt und arbeitet in Karlsruhe.
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