Appenzell | Das Appenzellerland ist voll winterlicher Überraschungen |
Gruselige Silvester im Appenzellerland. Polternde Chläuse im hohen Schnee. Wundersame Adventzeit. Herrscht in „Wiehnacht“ ewiger Friede?
Wundersam irreal scheint die Winterwelt im Appenzellerland. Wenn dichter Schnee die Hügel vom Bodensee bis zum Säntis zudeckt, stapfen bei Urnäsch vermummte Frauen durch das hohe Weiß.
Ulkig kostümierte Männer poltern mit scheppernden Schellen und komischem Kopfputz durchs Land, und vom einsamsten Appenzeller Dorf „Wienacht“ ziehen Fackelträger zu einer altmodischen Bahnhofsschenke. Erst wenn am Ende der Reise im Biedermeierstädtchen Heiden beim Relaxen im dampfenden Whirlpool eines Hotelgartens der Blick zwischen wirbelnde Flocken hinüber zum Bodensee schweift, sind die soeben erlebten Wintermärchen Erinnerung. Während der Kellner im Advent ein paar Tage zu früh die coole Variation eines Neujahr-Cocktails serviert, fliegen die Gedanken noch einmal zurück zu jenem finsteren Bergweg bei Urnäsch.
Mit Schreckensmasken aus Stroh und Gräsern tobt dieser Silvesterchlaus bald wieder von Haus zu Haus:
Wulstige graue Wolken drücken die Tannenspitzen des Schöngauwaldes. Von Urnäsch immer entlang den Bergdamm, hatte die Pensionswirtin gesagt: „Bei der Streuimooshütte wartet die Waldfrau auf Euch.“ Schneesternchen taumeln vom Himmel und kleiden die Schweizer Winterwelt in ein frisches zartes Weiß. Als allmählich die Dämmerung dem Dunkel weicht, bewegt sich im fahlen Licht ein schwarzer Strich durch das winterliche Stillleben. Im Lodencape, mit Kapuze und Stock kommt die Geschichtenerzählerin näher. „Folgt mir, der Schnee wird immer dichter“, ruft sie und steigt zu einer Lichtung hinab. Bis die Streuimooshütte erreicht ist, liest sie Spuren von Tieren, erklärt die heilende Wirkung von Kräutern und zeigt auf tief hängende Tannenzweige, die sich unter der Last des Schnees beugen. Nicht hochheben, mahnt sie, bestimmt ruhe dort ein „Tierli“ in seinem Versteck.
In der Mitte der Hütte flackert ein Feuer, Petroleumlampen spenden schummriges Licht. Bei Kräuterschnaps und heißem Tee erzählt Marianne Maier uralte „Märli“ (Märchen): Vom „Peter“, der als Waise im Wald aufwuchs, von allerlei Mächten, von Menschenschicksalen und dem harten Leben in der Bergwelt. Ja, sie sei eine Märli-Erzählerin, nickt die gelernte Erzieherin. Besuchern berichte sie aber auch von versteckten Orten und wahren Begebenheiten im Appenzellerland. Damit wolle sie großen und kleinen Gästen das Brauchtum und die Natur des Halbkantons näher bringen. Story-Telling nach Schweizer Art. „Habt ihr einen Pferdeschlitten zurück zum Dorf bestellt“, fragt die Erzählerin beim Abschied. Nein! Gut, lächelt sie. „Seht, wie Mond und Sterne den Schnee funkeln lassen. Der Abend beschert eine „märchenhafte“ Wanderung.“
Ein freier Tisch im rustikalen Wirtshaus ist Belohnung für den abendlichen Marsch. „Kabier“ - Fleisch empfiehlt die Wirtin. Wer ihren Erläuterungen glaubt, könnte meinen, die Schweizer spinnen. Im Stall einer Familie in Appenzell kommen nämlich Kühe täglich in den Genuss einer belebenden, reinigenden Massage mit Bierhefe. Resultat dieser tierischen Gersten-Wellness ist ein zartes, geschmackvolles Fleisch. Eine Art die Appenzeller Variante des exklusiven japanischen Kobe-Beefs.
Am nächsten Morgen ruft der Säntis - auch wenn der massige Hausberg der Ostschweiz heute gar nicht zu sehen ist. Ein Kleinbus mit Schneeketten schraubt sich 1 352 Meter hinauf zur Bergbahnstation auf die Schwägalp. Im Schneetreiben ist nur zu erahnen, wo das seit 1000 Jahren genutzte Weideland der Alp endet und der Säntis beginnt. Derweil bereitet der Koch im Berggasthof ein Käsefondue mit Champignons und Glühwein vor. Als Appetitmacher empfiehlt er eine Mini-Winterwanderung um das Hotel. Laternen weisen den Weg auf dem 500 Meter langen Rundparcours. Der ist zwar sehr überschaubar, verlangt bei 70 Zentimeter Schneetiefe aber eine engagierte Beinarbeit.
Märchenerzählen am Hüttenfeuer: Das „Story-Telling“ nach Schweizer Art ist winterliches Brauchtum im Appenzellerland:
Zwölf Stunden später verhüllt am blauen Himmel nur noch ein Wolkenhut die Spitze des Säntis. Durch Nebelschwaden schwebt die Gondel 2 502 Meter hoch auf den Gipfel. Um in der kalten Jahreszeit mit dem Berg warm zu werden, ziehen die Kabinengäste ihre Jacken fester zu, setzen Mützen und Sonnenbrillen auf und treten auf die Terrasse vor das Panoramarestaurant. Zum pfeifenden Wind leuchtet die Sonne wie ein wärmender Diamant über das weißbetupfte glitzernde Alpenpanorama, das einen 360-Grad-Rundblick auf sechs Länder eröffnet. Magisch und geheimnisvoll sei eine Fahrt bei Vollmond auf den Thron des Alpsteins, rät eine Romantikerin, als die Säntis-Schwebebahn zurück zur Alp schnurrt und leuchtendes Abendrot das gewaltige Massiv in eine dramatische Stimmung taucht.
Als kleinster Kanton der Schweiz drängt Appenzell sich mit seinem dichten Bahn- und Busnetz für kleine Rundreisen und Ausflüge geradezu auf. Nur eineinhalb Fahrstunden von Urnäsch entfernt ist dem Gründer des Roten Kreuzes in Heiden das Henri-Dunant-Museum gewidmet. Während einer Schlacht war Dunant Zeuge, wie der Weihnachtsmann durch die verfeindeten Reihen ging, Geschenke verteilte und unentwegt eine Glocke läutete, damit die Soldaten ihn nicht für einen Feind hielten. Keiner rührte einen Finger gegen ihn. Da sei Henri Dunant der Gedanke gekommen, ein internationales Sanitätswesen zu schaffen, dass alle Kriegsparteien respektieren, ist in dem großen Eckgebäude in der Asylstraße 2 nachzulesen.
Draußen an den Ufern des Dorfbachs zeugen klassizistische Villen vom Ruf Heidens als einer der reichsten, berühmtesten Kurorte Europas im 19. Jahrhundert. Heute ist von dem 4 200 Seelen großen Ferienort nahezu jedes Dorf im Appenzellerland erreichbar. Knapp zehn Minuten fährt eine Zahnradbahn bis Wiehnacht. Vom Bahnhäuschen schwenkt ein Pfad hinab zu den Jahrhunderte alten Appenzeller Bauernhäusern, die sich in einem engen, trichterförmigen Tal drängen. Wie aus einem alten Heimatfilm mutet die beschauliche Szenerie an. Weihnachtlich geschmückte Fenster und Höfe in stiller Abgeschiedenheit machen dieses Kleinod dörflicher Architektur in der Adventzeit zu einem beliebten Ziel für Winterwanderungen. Auf dem kleinen Weihnachtsmarkt reagieren die Einwohner auf Fragen wie „wohnt hier das Christkind“ oder „herrscht in Wiehnacht ewiger Frieden“ mit Engelsgeduld und einem Christkindlächeln.
Zu vorgerückter Stunde wartet vor dem Bahnhof ein pensionierter Posthalter, verteilt Karten mit einem Wiehnachter Stempel und führt seine Gäste im stimmungsvollen Fackellicht zum Wirtshaus „Station“. Bei einem „Höckle“ genießen Bauern und ländliche Originale ein zünftiges Fleischplättli mit Bier. Alte Schlager schallen aus einer Sechziger-Jahre Musikbox, die in dem betagten Schankraum das vermutlich modernste Interieur ist.
In Heiden sitzen die Hotelgäste immer noch bis zum Hals im warmen Pool. Einige bleiben bis Januar im Appenzellerland, um in Urnäsch beim Silvesterchlausen dabei zu sein. Bei diesem urtümlichsten aller Winterbräuche sind am letzten Tag des Jahres die Chläuse los. Schon in den Morgenstunden tauchen aus den Wäldern „Schöne“, „Wüeschte“ sowie mit Moos, Gräsern und Zapfen kostümierte wilde „Wald- und Naturchläuse“ auf. Touristen verfolgen dann das Treiben der mit Schellen und schweren Glocken lärmenden Gestalten. Auf ihren ausladend modellierten Hüten stellen die Männer bäuerliche Szenen zur Schau und toben unter grässlichen Masken aus Rinderzähnen und Knochen mit archaischem Jodeln von Haus zu Haus.
Dieser keineswegs heidnische Brauch ist auf einen spätmittelalterlichen St. Nikolausfeiertag von Klosterschülern zurückzuführen. Weil die Kirche aber schon 1663 keine wüsten Schreckensfratzen in der Vorweihnachtszeit duldete, machten sich die Urnäscher Chläuse halt an weniger heiklen Tagen auf den Weg: Jedes Jahr am 31. Dezember und nach dem julianischen Kalender nochmals zum alten Silvester am 13. Januar. Wenn der 31. Dezember oder 13. Januar auf einen Sonntag fällt, wird am vorangehenden Samstag „gechlaust“.
ReiseTravel Service
Heiden: Als zentraler Ausgangsort für Bahn- und Busreisen durch das Appenzellerland bietet sich das Biedermeierstädtchen Heiden an. Bis nach Wiehnacht, dem kleinsten Dorf in der Ostschweiz, fährt die Bahn zehn Minuten.
Unterkunft: Rustikal bäuerliche Zimmer im nahe am Bahnhof gelegenen Gasthaus „Taube“ in Urnäsch. Telefon: +41 713641140.
Das Wellnesshotel Heiden bei Wiehnacht-Tobel bietet Pauschalarrangements an. www.hotelheiden.ch
Restauranttipp: Zünftige und raffinierte Winterspeisen werden in der heimeligen Gaststube im „Urnäscher Kreuz“ aufgetischt. www.urnaescher-kreuz.ch
Anmeldung zu einem Fondueplausch in der Bahngaststätte „Station“ bei Wiehnacht: www.gaby.hafner@bluewin.ch
Museum: Sehenswert ist das 400 Jahre alte Brauchtumsmuseum in Urnäsch. Es erzählt von Silvesterchläusen, dem Sennenleben, von Bauernmalerei und Streichmusik. www.museum-urnaesch.ch
Literatur: „Schweiz“ mit vielen Ausflugstipps, Verlag Karl Baedeker, 26,70 Euro.
Informationen: www.MySwitzerland.com - www.appenzellerland.ch - www.saentisbahn.ch - www.wienacht.info
Ein Beitrag mit Fotos für ReiseTravel von Manfred Lädtke.
Unser Autor lebt und arbeitet in Karlsruhe.
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