Krakau | Nowa Huta |
Eine Stadt in der Stadt
Auf dem weitläufigen Brachland vor den Toren Krakaus errichtete das junge kommunistische Polen ein riesiges Stahlwerk und eine Elite Arbeiterwohnstadt. In der Architektur des sozialistischen Realismus.
Pferdewagen, weidende Kühe, daneben Familienpicknick, Möbel schleppende Männer, spielende Kinder auf entwurzelten Bäumen, vor einer Telefonzelle eine anstehende Menschenschlange. Im Hintergrund auf den alten Fotos stehen die ersten Beton Plattenbauten von Nowa Huta. Entworfen und gebaut wurde die Stadt als Mustersiedlung des Sozialismus.
„Auf nach Nowa Huta“
Nowa Huta, übersetzt Neue Hütte, wurde 1949 als Standort eines Eisenhütten-Kombinats gegründet und 1951 nach Krakau eingemeindet. Polens größtes Stahlwerk sollte als wichtigstes Zukunftsprojekt der jungen Volksrepublik Polen gebaut werden.
Die bestehenden Dörfer um Krakau wurden zerstört, der fruchtbare Schwarzerde Boden überbaut. Möglich, dass ein Standort im oberschlesischen Industrierevier sinnvoller gewesen wäre, doch Nowa Huta sollte ein bewusster Kontrapunkt zum bürgerlich-intellektuellen Krakau, der Stadt der polnischen Könige, sein. Die besten Architekten, die modernsten urbanen Lösungen und großer Idealismus während der Realisierung, alles lief nach Plan. Tausende junger Leute, Arbeiter und Landbewohner aus Dörfern und Kleinstädten strömten nach Nowa Huta, um das Stahlwerk mit aufzubauen. In den Siebzigerjahren liefen jährlich 7 Millionen Tonnen Stahl vom Band.
„Huta T. Sendzimira“, ein riesiger Schriftzug aus Beton, spannt sich über die Grünfläche zwischen den zwei riesigen Verwaltungsgebäuden des Werkes. Das Tor zur Hütte, Brama do Huty werden sie genannt. Vierstöckige Gebäude, an die 100 Meter lang, mit säulenumrahmten Eingängen. Auf den Dächern sind Zinnen, dahinter Türme angebracht. Im Volksmund wird die Firmenzentrale auch „Vatikan“ oder „Dogenpalast“ genannt. “
Die Regierung versprach den Zugereisten Arbeitsplätze, Wohnungen mit Innentoilette und fließendem Wasser, Zentralheizung, Parkett Fußböden, Doppelfenster. Dazu die Chance zu beruflichen Aufstieg. Nowa Huta sollte zur Heimat der Stahlarbeiter und ihren Familien werden.
Das Herz von Nowa Huta
Auf den Straßen verkaufen ältere Frauen Gartenzwerge, Löwen, Katzen, und Hunde aus Plaste. Gemüsehändler halten ihre Waren feil. Salate, Kohl, Tomaten, Gurken, Äpfel, Orangen. In einem Biergarten verkauft Silvia, eine junge Studentin aus dem nahegelegenen Dorf, rote und gelbe Rosen. Ein kleiner Nebenverdienst, in drei Stunden hat sie erst drei Rosen verkauft. Vor den Kiosken, inmitten grüner Parkanlagen und hoher Bäume, stehen ältere und junge Männer, blicken freundlich, die meisten eine Dose Bier in der Hand. Auf den Alleen gepflegte Blumenrabatte.
Als die perfekte Stadt, als ein Prestigeobjekt wurde Nowa Huta geplant.
Die Ideologie sollte sich auch in der Architektur widerspiegeln, die paradoxer Weise von dem westeuropäischen Modernismus inspiriert war. Es gab Straßenbahnen. Fahrradstreifen. Untergrundgaragen. Die Architekten ließen sich von Paris inspirieren, von dem Arc de Triumphe und der Chance Elysee. Zwölf Straßen in Form einer Sonne. Das geometrische Konzept einer Renaissance Stadt. Nowa Huta bekam die Form eines halben Achtecks mit dem zentralen Platz, von dem strahlförmig alle breit angelegten Hauptalleen ausgehen.
Die Mitte von Nowa Huta, einst Propagandaplatz, heißt nicht mehr „Stalinplatz“, sondern „Ronald Reagan Zentralplatz“. Das Lenin-Denkmal wurde abgerissen.
Die monumentalen Gebäude mit den Arkaden im Erdgeschoss entwarfen die Architekten Tadeusz Ptaszycki, Maria und Janusz Ingarden beauftragt. Der aus Sankt Petersburg stammende Architekt Tadeusz Ptaszycki war bereits im zerstörten Breslau an mehreren Projekten beteiligt. Mit der Gestaltung der Häuser wurden Marta und Janusz Ingarden betraut, die der Stadt ihren architektonischen Stempel aufdrückten. Das Ehepaar erkannte in den 60er-Jahren die Zeichen der Zeit und schuf die modernistischen Gebäude.
Elemente der Krakauer Renaissance, des Barock, Klassizismus und der Moderne prägten den Stil des sozialistischen Realismus. Nowa Huta wurde auch als schönste sozialistische Stadt bezeichnet. Eine Stadt in der Stadt.
In grau, beige und weiß präsentieren sich die zehngeschossigen Plattenbauten. Sie wurden in den 1970er- und 80er-Jahren billig und schnell für den rasant wachsenden Bezirk hochgezogen. Monumental, wuchtig. Mittendrin Läden, Restaurants, Bibliotheken, weitläufige Parks, Sportstadien, Spielplätze, Schulen und Kindergärten. Theater, Krankenhaus und Kultureinrichtungen. In einem Eckhausladen für Kunsthandwerk, dem Cepelix kann man noch die Originaleinrichtung mit ihren Holztresen und Leuchtern bewundern.
Arche des Herrn
Zwar gab es für damalige Verhältnisse komfortable Wohnungen, aber keine Kirchen. Unmut kam in der gläubigen Bevölkerung auf, der zu blutigen Auseinandersetzungen führte. Letztlich erlaubte die Regierung den Bau einer Kirche, der spektakulären „Arche des Herrn“.
In den 80er-Jahren wurde Nowa Huta Austragungsort für Streiks und Demonstrationen. Die Stadt entwickelte sich zu einem Zentrum der anti-kommunistischen Solidarnosc-Bewegung. Nach ihrem Sieg wurde das Stahlwerk nach dem Erfinder Tadeusz Sendzimir benannt und in ein Dutzend privater Betriebe aufgeteilt. Die umweltschädlichsten Teile wurden geschlossen. Im Jahr 2004 übernahm der indische Arcelor Mittal-Konzern die Reste. Bäume und Sträucher haben die stillgelegten Werksteile des Stahlwerkes inzwischen überwuchert.
Nostalgie in Restaurant und Milchbar
Das Restaurant Stylowa, das Anfang der 50 er Jahre erbaut wurde, versprüht noch den Charme sozialistischer Zeiten. Plastikefeu an den Wänden, gestärkte Tischdecken, Hängedecke mit Halogenlampen, ein Miniatur-Lenin erinnern an die Geschichte des Ortes. Das Stylowa war einst das vornehmste Restaurant in Nowa Huta. Hier versuchten vor einem halben Jahrhundert die Kellnerinnen den Hüttenarbeitern beizubringen, dass Kaffeetrinken elegant ist. Hier traf man sich bei einem „Liliput“ Kaffee oder dem besten Tatar in ganz Krakau. Den Verzehr begleiteten Melodien, die der blinde Pianist Zbyszek beisteuerte.
„Bar Mleczny“, heißt Milchbar, so verkünden es die weißen Buchstaben draußen, an den hohen Fenstern, die mit Grünpflanzen, Strelizien und Philodendren, dekoriert sind. Die Schriftzüge erinnern an die frühen Jahre des 1956 eröffneten Selbstbedienungsrestaurants. Die Milchbar, eine Art Kantine, ist in Polen eine Institution. Jeder sollte sich pro Tag eine warme, nahrhafte Mahlzeit leisten können. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Stammgäste, Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, Männer in Arbeitsanzügen, Rentnerinnen, Mütter mit kleinen Kindern, stehen am Tresen und bestellen Bigos, den Schmoreintopf mit Sauerkraut, Biała Kiełbasa, polnische Weißwürste oder Piroggen, die süß oder deftig gefüllten Teigtaschen, die noch nach dem gleichen Rezept von Hand hergestellt werden wie einst. Gutes Essen für wenig Geld. Oft kostet ein Mittagessen weniger als 3 Euro und es gibt dazu eine riesige Auswahl. Auf jedem Tisch steht eine einsame Plaste Tulpe. Als Salzstreuer dient ein Konservenglas mit Löchern im Deckel. Früher gab es Aluminiumbesteck, heute ist es Einwegplastik. Durch die kleinen Fenster an der Tellerablage sieht man Frauen mit Kittelschürzen, Plastikhauben und Gummihandschuhen Kartoffeln schälen, den Piroggenteig ausrollen und in großen Töpfen rühren.
Nowa Huta ist noch heute ein Unikum sozialistischer Planung und Baukunst. Viele Familien und junge Leute schätzen die günstigen Mieten, das gewachsenes Grün, die Nachbarschaft, das Gemeinschaftsgefühl. Alles Notwendige ist in unmittelbarer Nähe erreichbar. Jeder Wohnblock in Nowa Huta ist wie eine kleine Stadt in der Stadt. guideskrakow@gmail.com
Ein Beitrag mit Foto für ReiseTravel von Christel Sperlich
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