Mariana Mazzucato | Mondlandung |
Zeit für eine neue Mission: Regierungen müssen Innovationen vorantreiben, Risiken eingehen und öffentliches Interesse über privaten Profit stellen
Covid-19 hat die unzähligen Schwächen des modernen Kapitalismus aufgezeigt. Und in vielen Ländern haben frühere Einschnitte bei sozialen Diensten und im öffentlichen Gesundheitswesen die durch die Pandemie verursachten Schäden noch verschärft. Andere selbst verschuldete staatliche Probleme führten zu einer unzureichenden Koordinierung und Umsetzung der Maßnahmen. Bei Massentests und der Kontaktverfolgung, bei der Produktion von medizinischem Gerät und der Bildung gab es während der Lockdowns infolgedessen Probleme. Regionen und Staaten, die in die Leistungsfähigkeit ihrer öffentlichen Sektoren investiert haben, ist es dagegen viel besser ergangen. Am augenfälligsten war das in den Entwicklungsländern, wo Vietnam und der indische Bundesstaat Kerala herausragen.
Statt als Investoren letzter Instanz zu agieren, haben sich zu viele Regierungen zu passiven Kreditgebern letzter Instanz entwickelt, die Probleme erst aufgreifen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Doch wie wir während der großen Rezession nach 2008 hätten lernen sollen, ist es deutlich teurer, Volkswirtschaften während einer Krise zu retten, als bei öffentlichen Investitionen einen proaktiven Ansatz zu verfolgen.
Mondlandung
Zu viele Regierungen haben diese Lehre nicht beherzigt. Angesichts der neuen gesellschaftsweiten Herausforderung ist nun klar, dass sie ihre ordnungsgemäße Rolle bei der Gestaltung der Märkte aufgegeben haben. Sie ließen zu, dass öffentliche Einrichtungen durch Outsourcing und andere nur scheinbar effizienzsteigernde Maßnahmen ausgehöhlt wurden. Der Rückzug des öffentlichen Sektors hat der Vorstellung Platz gemacht, dass Unternehmertum und Vermögensbildung die ausschließliche Domäne der Unternehmen seien – eine Sicht, die selbst von den Befürwortern eines „Stakeholder Value“ vertreten wird.
In Wahrheit wird es uns angesichts künftiger Krisen umso schlechter gehen, je mehr wir uns dem Mythos der Überlegenheit des privaten Sektors verschreiben. Ein „besserer Wiederaufbau“ nach der derzeitigen Krise, so wie ihn die Regierung von US-Präsident Joe Biden und viele andere Regierungen versprochen haben, wird eine Erneuerung des öffentlichen Sektors erfordern. Dafür braucht es nicht nur eine neue Politik und den Ausbau der organisatorischen Fähigkeiten des Staates. Es braucht auch die Wiederbelebung des Narrativs vom Staat als einer Quelle der Wertschöpfung.
Wie ich in meinem neuen Buch „Mission Economy: A Moonshot Guide to Changing Capitalism“ erkläre, erforderte die Mondlandung einen extrem fähigen öffentlichen Sektor und eine zielgerichtete Partnerschaft mit dem privaten Sektor. Weil wir diese Kapazitäten abgebaut haben, können wir nicht hoffen, frühere Erfolge zu wiederholen oder gar ehrgeizige Ziele – wie die Ziele für nachhaltige Entwicklung und die Ziele im Pariser Klimaabkommen – zu erreichen.
Das Apollo-Programm hat gezeigt, wie ein klar definiertes Ergebnis durch eine multisektorale öffentlich-private Zusammenarbeit, missionsorientierte Beschaffungsverträge und eine vom Staat angetriebene Innovation und Risikoübernahme organisatorische Veränderungen auf allen Ebenen herbeiführen kann. Zudem bringen solche Unternehmungen tendenziell Nebenprodukte – wie Software, Handykameras oder Babynahrung – hervor, die einen weitreichenden Nutzen bieten.
Die geballte Macht der politischen Instrumente sollte genutzt werden, um viele unterschiedliche Akteure zur Entwicklung von Lösungen zu bewegen.
Das Modell der ersten Mondlandung hält Erkenntnisse und Inspirationen für gleichermaßen ehrgeizige „Erdmissionen“ bereit. So sollten wir etwa, um die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung umzusetzen, jedes davon in klar abgesteckte Teilmissionen aufspalten, die den Boden für weitere multisektorale Innovationen von unten bereiten würden. Ein plastikfreier Ozean etwa erfordert Investitionen und Innovationen in so unterschiedlichen Bereichen wie Schifffahrt, Biotechnologie, Chemikalien, Abfallwirtschaft und Design. Genau das bewirkte das Apollo-Programm, indem es Innovationen in der Luft- und Raumfahrt, Ernährung, Werkstoffkunde, Elektronik, Software und anderswo auslöste.
Es geht bei einem missionsorientierten Ansatz nicht darum, dass der Staat „die Gewinner auswählt“. Es geht darum, dass er die Richtung für Veränderungen – wie eine Umstellung auf eine umweltfreundlichere Wirtschaft – vorgibt, die Investitionen und Innovationen in einer Vielzahl von Sektoren erfordern. Dabei sollte die geballte Macht der politischen Instrumente genutzt werden, um Projekte ins Leben zu rufen, die viele unterschiedliche teilnahmewillige Akteure zur Entwicklung von Lösungen bewegen.
Die NASA hat damals ihre Beschaffungsverträge auf ihre Ziele ausgelegt. Dabei hat sie zu Bottom-up-Lösungen ermutigt und Klauseln, die „übermäßige Gewinne“ verboten, sowie Fixkosten festgelegt, damit die Mondmission eine Beteiligung sowohl an den Risiken als auch an den Belohnungen umfasste. Dies ist eine wichtige Lehre für viele Regierungen, die durch Outsourcing Kostensteigerungen und Qualitätsverschlechterungen erlitten haben.
Erdmissionen haben mit Mondmissionen viel gemeinsam, aber beide sind nicht synonym. Ähnlich sind sie sich darin, dass sie eine mutige, visionäre Führung durch Regierungen erfordern, die angemessen ausgestattet sind, um sich hohe Ziele zu setzen und sie konsequent zu verfolgen. Man denke etwa an den Covid-19-Impfstoff. Der Kollektivgeist und der ergebnisorientierte Ansatz bei der Impfstoffforschung und -entwicklung im letzten Jahr beschworen Erinnerungen an das Apollo-Programm herauf.
Während technologische Durchbrüche neue Instrumente hervorbringen können, sind sie nicht zwangsläufig selbst die Lösung. Erdmissionen erfordern die Aufmerksamkeit für politische, aufsichtsrechtliche und Verhaltensänderungen. Es wurden im Rahmen öffentlich-privater Kooperationen in Rekordzeit sichere, wirksame Impfstoffe entwickelt, wobei sich die öffentlichen Investitionen als absolut unverzichtbar erwiesen. Doch kam es anschließend sofort zu Unterschieden zwischen einkommensstarken und einkommensschwachen Ländern beim Impfstofferwerb, die sich seitdem noch vertieft haben.
Bei einer Erdmission wie der weltweiten Impfung sind technologische Neuerungen nur so nützlich wie ihre realweltliche Nutzung. Eine „Impfstoff-Apartheid“ (statt eines Menschheitsvakzins) würde eine moralische und wirtschaftliche Katastrophe darstellen. Wenn es den Pharmaunternehmen mit ihrer erklärten Unterstützung für den Grundsatz des Stakeholder Value ernst ist, sollten sie ihre Covid-19-Impfstoffpatente, Daten und Fachkenntnisse mittels des Covid-19 Technology Access Pool teilen. Bisher wird dieser Pool nicht genutzt.
Auch öffentlich-private Kooperationen müssen sich vom öffentlichen Interesse leiten lassen. Wir dürfen nicht die Versäumnisse im Bereich der heutigen Digitalwirtschaft wiederholen.
Auch die Regierungen müssen sich den Grundsatz des Stakeholder Value wirklich zu eigen machen; dieser gilt nicht nur für die Unternehmensführung. Auch öffentlich-private Kooperationen müssen sich vom öffentlichen Interesse leiten lassen. Sie dürfen nicht die Versäumnisse im Bereich der heutigen Digitalwirtschaft wiederholen. In ihrer jetzigen Form entstand diese, nachdem der Staat das technologische Fundament zur Verfügung gestellt hatte, und es dann versäumte, das, was darauf errichtet wurde, zu regulieren. Infolgedessen haben ein paar dominante Big-Tech-Unternehmen ein neues Zeitalter algorithmischer Wertabschöpfung eingeläutet, bei dem einige wenige auf Kosten der großen Mehrheit profitieren.
Die Technologie allein wird soziale und wirtschaftliche Probleme nie lösen. Bei der Anwendung des Mondmissionsprinzips auf komplexe Herausforderungen auf der Erde müssen die Politikerinnen und Politiker auch die unzähligen sonstigen sozialen, politischen, technologischen und Verhaltensfaktoren beachten. Sie müssen eine gemeinsame Vision formulieren, die die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft und die öffentlichen Institutionen umfasst.
Erdmissionen müssen daher auch die Bürgerinnen und Bürger in umfassender Weise einbeziehen. CO2-Neutralität etwa muss in Zusammenarbeit mit ihnen an ihrem Wohnort konzipiert werden, beispielsweise im sozialen Wohnungsbau. Durch einen breite Schichten einbeziehenden Stakeholder-Ansatz kann sich eine Mission zu einem stabilen staatsbürgerlichen Fundament und einem Motor für nachhaltiges Wachstum entwickeln, so wie sich das diejenigen vorstellen, die nach einem grünen New Deal, Health for All und Plänen zur Überwindung der digitalen Kluft rufen. Diese Lehren könnten für die Biden-Regierung gar nicht relevanter sein. Die Biden-Administration kann die Macht eines umfassenden unternehmerischen Staates nutzen, der über Einrichtungen verfügt wie die Defense Advanced Research Projects Agency und die National Institutes of Health (die bis zu 40 Milliarden US-Dollar jährlich für Innovationen im Medikamentenbereich ausgeben).
Es besteht nun die enorme Chance, eine Industriepolitik zu verfolgen, die über die traditionellen sektoralen und technologischen Silos hinausgeht, und im öffentlichen Interesse eine missionsorientierte Regierungspolitik wiederherzustellen. Eine moderne, auf eine „grüne Renaissance“ abzielende Industriestrategie etwa würde erfordern, dass alle Sektoren – von der künstlichen Intelligenz über das Transportwesen bis hin zu Landwirtschaft und Ernährung – Innovationen vorantreiben und sich in eine neue Richtung entwickeln. Präsident John F. Kennedy hatte seine Mondmission. Bidens Mission besteht darin, diese nach Hause zu bringen.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Mariana Mazzucato. Aus dem Englischen von Jan Doolan. (c) Project Syndicate
Prof. Dr. Mariana Mazzucato lehrt an der britischen Universität Sussex Wissenschafts- und Technologiepolitik. Sie berät die Europäische Kommission zu Fragen wirtschaftlichen Wachstums und ist im Vorstand des britischen Umwelt-Thinktanks Green Alliance. Für ihr Buch Das Kapital des Staates: Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum wurde sie mit dem Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik Wirtschaft. Weiter. Denken. 2015 ausgezeichnet.
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