Christos Katsioulis

Der Brexit-Deal besiegelt den UK-Austritt aus der EU? In Wahrheit zementiert der Vertrag weitere jahrelange Verhandlungen zwischen London und Brüssel.

Ende gut, alles gut? Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Der Brexit hat schon viele Binsenweisheiten ad absurdum geführt – so auch diese. Aber nach den vielen turbulenten Jahren der Verhandlungen ist es per se schon positiv, dass es nun ein Ergebnis gibt. Der No-Deal-Brexit wurde abgewendet. Es ist beiden Seiten gelungen, in Rekordzeit einen Freihandelsvertrag zu vereinbaren, der zudem noch weitere Aspekte wie polizeiliche Zusammenarbeit oder die Beteiligung an Forschungsprogrammen beinhaltet. Das allein verdient Anerkennung vor allem für die Verhandlungsteams, die teilweise nur virtuell miteinander sprechen konnten.

Beide Seiten können für sich reklamieren, einen Sieg davongetragen zu haben – wie es bei guten Handelsverträgen immer auch sein sollte

Das ist die Folge zweier defensiv aufgestellter Verhandlungsstrategien: Die EU hat es geschafft, die Integrität des Binnenmarkts gegen eine der weltweit größten Volkswirtschaften zu schützen. Das Vereinigte Königreich hat für sich ein Maximum an Souveränität herausgehandelt. Damit ist gemeint, dass keine Bindung an europäisches Recht mehr besteht, die Idee der dynamischen Angleichung von Standards konnte abgewehrt werden und es hat die Kontrolle über seine Fischereigründe wiedererlangt. Damit hat das Abkommen für London und Brüssel eine gesichtswahrende Basis dafür geschaffen, die noch offenen Themen und vor allem die praktische Umsetzung der Vereinbarungen anzugehen.

Denn beim „Ende gut, alles gut“ stimmt noch nicht einmal das Ende. Der von Johnson und von der Leyen so gefeierte Deal ist ein wichtiger Schritt hin zu einem geordneten Verhältnis der nun geschiedenen Partner. Er regelt einen großen Teil der Verpflichtungen beider Seiten und schafft einen recht komplizierten Rahmen zur Konfliktbeilegung im Streitfall. Darüber hinaus enthält er aber noch viele Leerstellen und Unklarheiten. Der Vertrag über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, der nun dem Unterhaus und dem Europäischen Parlament zur Ratifizierung vorgelegt wird, ist zwar gut 1200 Seiten dick, es ist faktisch aber ein dünner Deal.

Das Vereinigte Königreich hat für sich ein Maximum an Souveränität herausgehandelt

Auf dem Spektrum zwischen weiterhin enger Verflechtung beider Seiten und größtmöglicher Autonomie voneinander, neigt er zu letzterem. Die Unterschiede werden betont, Gemeinsamkeiten bleiben im Hintergrund. Im Englischen war hier von soft und hard Brexit die Rede. Boris Johnson hat sich explizit für einen harten Brexit entschieden. Die Priorität seiner Regierung war die Fähigkeit Gesetze nach eigenem Gutdünken festlegen zu können, Souveränität in einem sehr absoluten und geradezu nostalgischen Sinn. Das hat seinen Preis: mehr Kontrolle und Bürokratie beim grenzüberschreitenden Güterhandel und es hat den noch höheren Preis, dass der Zugang zum Markt für Dienstleistungen im neuen Abkommen kaum geregelt ist. Das ist ausgerechnet der Bereich, in dem das Vereinigte Königreich einen Handelsüberschuss gegenüber der EU verzeichnet.

In Sicherheitsfragen wird eine Fortsetzung der polizeilichen und justiziellen Kooperation vereinbart, diese wird aber deutlich unterhalb des bisherigen Levels liegen, das für das Vereinigte Königreich als EU-Mitglied zur Gewohnheit geworden war. Die täglich bis zu 1,6 Mio. Zugriffe aus dem UK auf die Schengen-Datenbank zum Beispiel werden in Zukunft nicht mehr möglich sein, es blieb unklar, wie diese Lücke gefüllt werden kann. Ähnliches gilt für Ermittlungen von Europol. Die Frage, wie praktisch mit grenzüberschreitender Kriminalität und Terrorismus umgegangen wird, ist Thema weiterer Verhandlungen.

Auch für viele britische Bürgerinnen und Bürger, die verständlicherweise in den letzten Monaten nicht mehr jeder einzelnen Windung der Verhandlungen gefolgt sind, wird sich vieles verändern. Und nur wenig davon war im Referendum angekündigt. Arbeiten, Leben und Reisen in der Europäischen Union wird künftig mit mehr Aufwand und Bürokratie verbunden sein. Bislang nur von Fernreisen bekannte Dinge wie Reisekrankenversicherung, Papiere fürs mitgeführte Haustier oder auch der Nachweis einer Autoversicherung könnten bei der Kanalüberquerung künftig nötig sein. Dienstreisen werden von neuen Ungewissheiten begleitet werden, weil je nach Zielland in der EU unterschiedliche Regeln gelten werden. Und unklar ist auch, wie die vielen englischen Rentner im Süden Europas ihren Winter verbringen können, wenn sie nur eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis haben.

Boris Johnson hat sich explizit für einen harten Brexit entschieden

All das bedeutet, dass der Brexit für London ein Ewigkeitsprojekt werden wird. Die Verhandlungen mit der EU und ihren Mitgliedsstaaten werden andauern, das ist im Vertrag explizit vorgesehen. Kurzfristig werden Fragen des Datenschutzes auf der Agenda stehen, ebenso wie potenzielle gemeinsame Instrumente im Kampf gegen die Klimakatastrophe. Langfristig werden sich Fragen der außenpolitischen Kooperation neu stellen. Und parallel dazu muss der nun ausgehandelte Vertrag in all seiner Komplexität in die Realität umgesetzt werden. Politisch kommt hinzu, dass vermutlich jede neue Regierung in London Änderungen am Verhältnis mit der EU anstreben wird.

Grundsätzlich betrachtet wird der Knackpunkt aber sein, inwiefern es in London gelingt, das Warum des Brexit zu definieren. Bislang war der Austritt ein Prozess der reinen Ablehnung europäischer Regeln, Prozesse und Strukturen. Dies war das entscheidende Motiv der Verhandlungen, verbunden mit rhetorischen Verbrämungen der glorreichen Zukunft danach. Ein „Versprechen ohne Plan“, wie es der Historiker David Edgerton nannte. Denn außer Schlagworten wie „Global Britain“ hat noch niemand den Britinnen und Briten vermitteln können, was das Land mit der nun neu erlangten Freiheit von der EU anzufangen gedenkt. Was wird der Kurs des von der EU „befreiten“ Vereinigten Königreichs global sein? Was sind die Ziele, die es verfolgen wird und in welchen Allianzen wird es versuchen, diese zu erreichen?

In der aktuellen Regierung finden sich zwar Fürsprecher eines deregulierten Singapur-an-der-Themse. Aber sie haben keine Mehrheit, ebenso wenig wie die eher auf nationale Exzellenz und regionalen Ausgleich orientierten Tories, die sich ebenfalls auf den Bänken der Regierungsfraktion drücken. Während die einen am liebsten auf das blanke Minimum deregulieren wollen, wünschen sich die anderen das Gegenteil: anspruchsvolle Standards mit weltweitem Signalcharakter und großzügige staatliche Unterstützung für britische Unternehmen mit gut bezahlten Arbeitsplätzen – am liebsten in den alten heruntergekommenen Industrieregionen des Nordens.

Diese Debatte könnte nun beginnen, nachdem das Abkommen unter Dach und Fach ist. Aber vor dem Hintergrund der Entwicklungen der letzten Jahre muss man skeptisch sein, ob sie tatsächlich stattfinden wird. Von Johnson darf man zwar vollmundige Reden und griffige Slogans erwarten, Substanz ist ihm aber eher fremd. Versprechen liegen ihm nah, der dazu gehörende Plan eher nicht. Daher ist auch mit der Unterschrift unter den Deal noch nicht Ende der Fahnenstange. Der Brexit ist weder zu Ende, und was gut daran ist, muss erst noch definiert werden.

Ein Kommentar von Christos Katsioulis. IPG www.ipg-journal.de

Christos Katsioulis leitet das Büro der FES in London. Zuvor leitete er die Büros der Stiftung in Athen und Brüssel. Er war fünf Jahre als Experte für Außen- und Sicherheitspolitik in der Internationalen Politikanalyse der FES tätig.

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