Robert Reißmann

Herrscht in den „neuen“ Bundesländern ein anderes Demokratieverständnis vor als in den „alten“?

Die Unterschiede zwischen Ost und West sind immer noch enorm. Drei Punkte stechen besonders heraus, sagt der Soziologe Steffen Mau

Nach den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg werden sich viele wahrscheinlich wieder fragen: Warum wählt der Osten anders?

Nach der Europawahl im Juni war der Umriss der ehemaligen DDR ziemlich klar zu erkennen auf den Deutschlandkarten mit den Wahlergebnissen. Die ostdeutschen Wahlkreise waren mehrheitlich blau eingefärbt. Die Frage, warum das so ist, treibt auch den Soziologen Steffen Mau um. Kürzlich hat er einen schmalen Band zum Thema vorgelegt: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt.

Manchem wird bereits aufstoßen, dass hier von „dem Osten“ die Rede ist. Schließlich wählt im September nicht „der Osten“ – wie man gerade häufig zu lesen bekommt –, sondern drei („neue“) Bundesländer. Ist dieses Reden über den Osten als Ganzen nicht schon Teil des Problems?

Wird er damit nicht erst zu dem gemacht, was dann als Abweichung von der westdeutschen Norm kritisiert werden kann?

Denn dabei werde die Vielgestaltigkeit der fünfeinhalb ostdeutschen Bundesländer verleugnet. In den Köpfen bleibe dann die Vorstellung eines einheitlichen Blocks hängen – mit den üblichen unschönen Attributen. Frei nach Dirk Oschmann: „Erfindet“ sich also der Westen den Osten so, wie er ihn braucht: um selbst besser auszusehen?

Steffen Mau relativiert: Am Ende gelte eben beides zugleich: „Die innere Diversität Ostdeutschlands ist größer als oft vermittelt.“

Aber: „Ost und West unterscheiden sich weiterhin, und diese Diskrepanzen dürfen nicht einfach weggewischt werden.“

Von einer Erfindung des Ostens könne daher keine Rede sein, so Mau. Er vertritt zunächst die These, dass „der Osten“ in vielerlei Hinsicht tatsächlich anders sei und dies in absehbarer Zukunft auch bleiben werde. Lange Zeit sei das oberste Ziel der Politik die Angleichung des Ostens an den Westen gewesen.

Diese implizite Norm offenbart sich in der regelmäßig geäußerten Verwunderung, dass so und so viele Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer diese und jene Unterschiede bestünden. Von „Aufholjagd“ und der „Angleichung der Lebensverhältnisse“ war und ist die Rede.

Heute müssen wir feststellen, so Mau, dass die Erwartung einer vollständigen Angleichung nicht realistisch ist (abgesehen davon, dass sie nicht in allen Bereichen wünschenswert ist).

Die Unterschiede seien auf sehr unterschiedliche Vorgeschichten zurückzuführen: besonders, aber nicht nur auf die der DDR und der „Wende“- und Transformationszeit. Die Gegenwart trage immer die Spuren der Vergangenheit, niemand existiere ohne Prägungen und Erfahrungen. Schon allein deshalb verbiete es, sich zu erwarten, andere sollten so werden wie man selbst. Die deutsche Einheit, so Mau, war eine Mesalliance zweier recht ungleicher Partner. „Aus asymmetrischen Vorbedingungen der Wiedervereinigung sind heute recht hartnäckige Ungleichheitsverhältnisse geworden.“

Steffen Mau „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“

Nach den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg werden sich viele wahrscheinlich wieder fragen: Warum wählt der Osten anders?

Von einer Erfindung des Ostens könne daher keine Rede sein, so Mau. Er vertritt zunächst die These, dass „der Osten“ in vielerlei Hinsicht tatsächlich anders sei und dies in absehbarer Zukunft auch bleiben werde. Lange Zeit sei das oberste Ziel der Politik die Angleichung des Ostens an den Westen gewesen.

Diese implizite Norm offenbart sich in der regelmäßig geäußerten Verwunderung, dass so und so viele Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer diese und jene Unterschiede bestünden. Von „Aufholjagd“ und der „Angleichung der Lebensverhältnisse“ war und ist die Rede. Heute müssen wir feststellen, so Mau, dass die Erwartung einer vollständigen Angleichung nicht realistisch ist (abgesehen davon, dass sie nicht in allen Bereichen wünschenswert ist).

Die Unterschiede seien auf sehr unterschiedliche Vorgeschichten zurückzuführen: besonders, aber nicht nur auf die der DDR und der „Wende“- und Transformationszeit. Die Gegenwart trage immer die Spuren der Vergangenheit, niemand existiere ohne Prägungen und Erfahrungen. Schon allein deshalb verbiete es sich zu erwarten, andere sollten so werden wie man selbst. Die deutsche Einheit, so Mau, war eine Mesalliance zweier recht ungleicher Partner. „Aus asymmetrischen Vorbedingungen der Wiedervereinigung sind heute recht hartnäckige Ungleichheitsverhältnisse geworden.“

Für weite Teile der „neuen“ Bundesländer gilt: Industrie ist anderswo

Von welchen Unterschieden reden wir hier?

Mau führt drei Beispiele genauer aus: Sozialstruktur, Demografie, Kultur. Der erste Punkt betrifft die Wirtschaft, das heißt die „sozialstrukturelle Unterprivilegierung“ des Ostens.

Um nur eine von vielen Kennzahlen zu nennen: Das Vermögen der Haushalte ist in Westdeutschland doppelt so hoch, nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftssteuer werden in Ostdeutschland (ohne Berlin) gezahlt. Kein Wunder, dass dies mit Enttäuschung einhergeht: Als 1989 das Politbüro in die Wüste geschickt worden war und man sich 1990 aktiv und mehrheitlich für den schnellen Beitritt zur Bundesrepublik entschied, wollte man die westdeutschen Verhältnisse importieren. Man wollte also verbreiteten Wohlstand, sichere Industriearbeitsplätze mit Tarifbindung – all das ist auch versprochen worden.

Heute jedoch arbeiten 30 Prozent der Ostdeutschen im Niedriglohnsektor und die ostdeutschen Länder sind Schlusslichter bei der Tarifbindung.

Für weite Teile der „neuen“ Bundesländer gilt: Industrie ist anderswo.

Frappierend und erschreckend sind die demografischen Unterschiede. Kurz gefasst: Ostdeutschland schrumpft, Westdeutschland wächst – und das übrigens nicht erst seit dem Fall der Mauer. Dieser hat der Abwanderung aus dem Osten jedoch einen starken Schub gegeben, zu der noch ein beispielloser Geburteneinbruch von über 50 Prozent kam.

Dass es mehrheitlich junge und gut ausgebildete Menschen waren, die ihrer Heimat den Rücken kehrten, konnte nicht ohne wirtschaftliche und kulturelle Folgen bleiben.

Eine ostdeutsche Besonderheit ist darüber hinaus der Männerüberschuss, weil es mehrheitlich Frauen waren, die im Westen ihr Glück suchten – und noch immer suchen.

In manchen Altersgruppen und Gegenden nimmt dies erschreckende Ausmaße an: Bei den 20- bis 29-Jährigen etwa kommen in manchen thüringischen Landkreisen über 130 Männer auf 100 Frauen. Logischerweise habe dies Folgen bis hin zu Männlichkeitsnormen und Gewaltneigung, so Mau. Jüngere Studien würden zudem einen Zusammenhang mit antidemokratischen, fremdenfeindlichen und rechten Einstellungen herstellen. Nicht nur für Ostdeutschland, sondern auch für andere schrumpfende Gesellschaften gelte: „Die Befürchtung des ‚quantitativen‘ Bedeutungsverlusts und der Majorisierung [der Übervorteilung] durch andere stärkt eine Wagenburgmentalität, verringert Offenheit, die man so gut gebrauchen könnte.“ Ein Teufelskreis.

Wirtschaftliche und demografische Einblicke ermöglichen erste Antworten auf die Frage, warum „der Osten“ anders wählt

Diese wirtschaftlichen und demografischen Einblicke ermöglichen erste Antworten auf die Frage, warum „der Osten“ anders wählt.

Vor allem die ökonomische Enttäuschung, die vielerorts ausbleibende Entwicklung scheint ein plausibler Grund für eine größere Bereitschaft, Protest und radikalere Alternativen zu wählen.

Dieser Zusammenhang gilt schließlich nicht nur für Ostdeutschland: „Wirtschaftlich schwache Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit, Überalterung und einem geringeren Bildungsgrad sind auch im Westen AfD-anfälliger“, zeigt Mau. Allerdings sei das „Stadt-Land-Gefälle“ im Osten noch deutlich größer.

In Ostdeutschland komme ein weiterer wichtiger Punkt hinzu: Der dritte Unterschiede-Komplex, den Mau genauer ausleuchtet, ist die politische Kultur.

Für die häufig beklagte Feststellung, die Ostdeutschen seien mit dem demokratischen System nicht ausreichend vertraut geworden, gebe es Gründe, die nicht nur in die undemokratische DDR zurückreichen, sondern auch maßgeblich in die Zeit des Umbruchs. Nach der „demokratischen Urerfahrung der Ostdeutschen“ – nach dem Sturz der SED – währte die Phase demokratischer Selbstwirksamkeit tragischerweise nur kurz. Auf die Selbstermächtigung sei – „freiwillig und sehenden Auges“ – die Selbstentmachtung gefolgt durch die Weichenstellung in Richtung schnelle Einheit.

Jetzt sei die DDR „inkorporiert“ worden, „ohne größere Berücksichtigung der dort gewachsenen Strukturen und Mentalitäten“.

Mehr noch: Man bemühte sich, basisdemokratische Experimente oder neue und unkonventionelle Formen der Partizipation wie etwa die Runden Tische zurückzudrängen. Sie galten schlichtweg als nicht kompatibel und dysfunktional. „Die Angst vor Eigen- oder Sonderstrukturen oder vor möglichen Rückwirkungen auf die Bundesrepublik-West war erheblich“, schreibt Mau.

Der weitere Einigungsprozess sei im „Autopilotmodus“ verlaufen. Einmal getroffene Regelungen galten als sakrosankt, Mitwirkung und Mitgestaltung seien unerwünscht gewesen. „Viel zu wenig haben die Verantwortlichen damals daran gedacht, dass man den Einsatz und die Selbstwirksamkeitserfahrungen der Ostdeutschen selbst braucht, um die Demokratie mit Leben zu füllen.“ Mau interpretiert deshalb den Übergang von der friedlichen Revolution zur deutschen Einheit als „ausgebremste Demokratisierung“.

Noch heute herrsche in den „neuen“ Bundesländern ein anderes Demokratieverständnis vor als in den „alten“.

Vor allem gegenüber der Parteiendemokratie gebe es Vorbehalte, die unter anderem auf die Erfahrungen zurückzuführen seien, die man mit der SED und ihren Blockflöten machen musste. Die Befreiung 1989 war eine Befreiung von diesen Parteien. Die „Bonner Parteien“ hätten es dann nur bedingt geschafft, im Osten Fuß zu fassen. Sie haben dort bis heute deutlich weniger Mitglieder und können die Rolle nicht spielen, die die Parteiendemokratie für sie vorsieht: Laut Mau stellen sie keine verlässliche Verbindung her zwischen Politik und Bevölkerung. Die Kommunikation zwischen „oben“ und „unten“ sei gestört. Statt der Parteiendominanz wünsche man sich in Ostdeutschland eine stärkere Berücksichtigung des „ursprünglichen und direkten Volkswillens“, etwa in Form plebiszitärer Einbindung.

Steffen Mau bleibt nicht bei der Analyse stehen, sondern unterbreitet am Ende seines Buches einen Vorschlag

Wie also könnte die Verbindung zwischen Politik und Bevölkerung gestärkt werden?

Steffen Mau bleibt nicht bei der Analyse stehen, sondern unterbreitet am Ende seines Buches einen Vorschlag. Aus den ostdeutschen Besonderheiten ergebe sich, dass der politische Raum anders gedacht und gestaltet werden muss. „Womöglich ist Ostdeutschland sogar dazu prädestiniert, ein Labor der Partizipation zu werden“, glaubt Mau.

Konkret schlägt er vor, vermehrt auf Bürgerräte zu setzen. Sie könnten helfen, Populismus einzudämmen, weil sie „das Volk“ elementar beteiligen: Eine zufällig zusammengesetzte und heterogene Gruppe von Bürgern tauscht sich intensiv aus über politische Fragen und findet im besten Fall zu einer gemeinsamen, ausgewogenen Position. Diese Position könnte eine größere allgemeine Akzeptanz erlangen als Gesetze, die „von denen, da oben“ erdacht worden sind. Insofern könnten oder sollten „Bürgerräte die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, sondern ergänzen“.

Die Themenpalette in Ungleich vereint ist deutlich größer. Was hier nur angedeutet werden kann: Der Autor beschäftigt sich nicht nur mit ostdeutscher Identität und mit dem vergleichsweise milde ausfallenden „ostdeutschen 1968“, sondern auch mit konkreten politischen Konstellationen, Problemlagen und Aussichten. All das ist über weite Strecken spannend, informativ und zumeist gut lesbar.

Empfehlenswert ist das Buch übrigens nicht nur für Ostdeutsche. Zwar ist es zunächst eine spezifisch ostdeutsche Situation: Die Schwäche der demokratischen Repräsentation hat in den 1990er Jahren im Osten ein Gelegenheitsfenster für rechtsextreme Akteure geöffnet. Wo das aber hinführen könnte, wenn diese Akteure Regierungsverantwortung übernehmen sollten, können wir anderswo längst beobachten: in Ungarn, in Italien, bis vor kurzem in Polen. Mau erinnert auch daran: „Die AfD ist eine gesamtdeutsche Partei“, wenn auch in Ostdeutschland besonders erfolgreich. Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg werfen auch einen Schatten auf den Westen.

Buchtipp: Ungleich vereint Warum der Osten anders bleibt von Steffen Mau. Edition Suhrkamp.

Ungleich vereint Warum der Osten anders bleibt von Steffen Mau. Edition SuhrkampDie Diskussion über Ostdeutschland und das Verhältnis zwischen Ost und West flammt immer wieder auf. Sei es anlässlich runder Jubiläen, sei es nach Protesten. Und dennoch gibt es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte. Sie dreht sich im Kreis, auf Vorwürfe folgen Gegenvorwürfe: „Ihr seid diktatursozialisiert!“ – „Ihr habt uns ökonomisch und symbolisch kleingemacht!“

Ungleich vereint Warum der Osten anders bleibt von Steffen Mau. Edition Suhrkamp. Klappenbroschur, 168 Seiten, ISBN 978-3-518-02989-3. www.suhrkamp.de

Das Buch kostet im Buchhandel 18,00 Euro.

 

Autor Robert Reißmann ist freier Lektor und Übersetzer für Leichte und einfache Sprache. Er ist im Netzwerk Leichte Sprache aktiv. Er hat Literaturwissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft studiert.

 

IPG Journal Referat Globale und Europäische Politik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Hiroshimastraße 28, D-10785 Berlin. www.fes.de

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