Hamburg

Wenn in Dithmarschen erste Herbstwinde über das Schleswig-Holsteiner Land wehen, rollen auf Feldern die Köpfe.

Kohlfest Dithmarschen

Ankerplatz für Feinschmecker: Und weil man aus Weißkohl eine Menge machen kann, laden Touristiker seit mehr als 30 Jahren zu einem Fest für Gaumen und Kehle ein und verkohlen sechs lange Tage die Besucher. Rund fünf Tage dauert jedes Jahr die Verneigung vor dem kugelrunden Gemüse – irgendwo im Nirgendwo einer weltverlorenen Gegend.

Zwischen Watt und Nord-Ostsee-Kanal breitet sich ein sattgrünes Gemüsemeeraus. Pralle Kohlköpfe bedecken bis zur Ernte den feuchten Marschboden und warten auf die Ernte. Kohlrouladen, Kohlsuppe, Kohlfrikadellen und Kohlpudding sind jetzt kulinarische Schmankerl in Dithmarschens Gasthäusern und Gutshöfen. Nach Getreide und Zuckerrüben beansprucht die Ackerpille ein Drittel der landwirtschaftlichen Fläche. Wo Corona-Fallzahlen es zulassen, feiert die Kohlküste das junge Gemüse auf Höfen und Märkten mit Bühnenprogrammen, Kunsthandwerk, Kochwerkstätten und regionalen Erzeugnissen. Petersilienwurzeln, die fein-süßliche Pastinake sowie Hack und Speck machen den Kohl für die raffinierte Herbstküche fett.

Beim Vitamin C stehe Kohl einer Zitrone in nichts nach, preist Jan Henning Ufen das mineralstoffreiche Gewächs. James Cook und andere Seeleute hätten Sauerkraut mit an Bord genommen, um sich vor der gefürchteten Skorbut-Krankheit zu schützen.

Mehrmals hat Landwirt und Agrar-Betriebswirt Ufen den öffentlichen Kohlanschnitt mit lokaler Politprominenz organisiert. Schon bei der Premiere vor 18 Jahren kamen statt der erwarteten 1000 Gäste dreimal so viele zum „Anschnittsfest“ in die Kohlkammer Deutschlands. Das machte Mut für alljährliche Festtage.

Allerdings begann die Erfolgsgeschichte von Ditmarschens Kohlproduktion schon Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Gärtner erkannte die Nährstoffe des Marschbodens sowie Vorteile des Nordseeklimas, das Schädlingen den Garaus macht. Auf überschaubaren drei Morgen pflanzte er die ersten Köpfe. Skeptische Nachbarn belächelten ihn als „Hohlkopf“. Als er 1924 im Alter von 65 Jahren starb, war der Kohlpionier ein erfolgreicher Unternehmer und stolzer Villenbesitzer. Heute ist die Region mit 3000 Hektar Europas größtes Anbaugebiet für unterschiedliche Kohlarten. „Wir ernten jedes Jahr mehr als 80 Millionen Köpfe“, erklärt Jan Henning Ufen. Ein Kopf für jeden Bundesbürger also. Von einer gestapelten Kohlpyramide nimmt Ufen eine Fußball große grüne Kugel und schneidet sie in Teile. „Kostprobe!“, sagt er. „Und…?“ Schmeckt frisch, mild-würzig und knackig.

Kohlfest Dithmarschen

Auf Ufens Hof im Karolinenkoog schlendern erste Besucher von Stand zu Stand. Eine Band stimmt plattdütsche Lieder an. Ein Traktor fährt vor. Vom Anhänger steigt eine Schar erkennbar honoriger Personen herab. Zwei in Trachten gewandete Frauen machen sich bereit für den feierlichen „Anschnitt“. Für Touristen und Fotografen posieren die Kohlköniginnen - nein, die Regentinnen - im Kohlfeld. „Weil Dithmarschen früher eine freie Bauernrepublik war, heißt das bei uns nicht Königin, sondern Regentin“, klärt Hepke Nöhrenberg auf. Im Winter 1500 schlugen Bauern Truppen des dänischen Königs zurück. Reiche Grundbesitzer bestimmten weitere 60 Jahre die Politik in Dithmarschen, die kein blaues Blut duldete.

Während regionale Prominenz noch erste geschnittene Kohlköpfe plakativ in die Kameras hält, bewegt sich der Touristentross zurück zum Gutshof. In der Scheune tischen Landfrauen deftige Kohlrouladen mit Kartoffeln auf. Vor dem Tor an einem Info-Stand beschwört eine Landwirtin Kohlblätter als Bakterienkiller und Zellschützer. Kohlwickel würden zudem bei Gelenkentzündungen und Kopfschmerzen helfen.

Wer seinen Wissenshunger noch nicht stillen konnte, findet 15 Autominuten entfernt in Wesselburen informativen Nachschlag. In eine alte Sauerkrautfabrik ist das „Kohlosseum“ mit Krautwerkstatt und einem Museum eingezogen. Was es mit einer Salbe aus Weißkohlsaft auf sich hat, ist hier nur ein Thema in Vorführungen und Kochkursen.

Wenn der Kohl am besten schmeckt, soll man aufhören“, sagt ein Sprichwort. Kalorien bewusste Gäste nutzen für einen Spaziergang den benachbarten Hebbel-Rundwanderweg. Der Schriftsteller, verließ im Alter von 21 Jahren Dithmarschen und starb 1910 in Wien. Gedanken über seine „kleine Welt“, in die Friedrich Hebbel nie wieder zurückkehrte und die er nie wirklich geliebt hat, sind in seinen Schriften und auf dem Rundweg nachzulesen.   Weiter geht es auf der kulinarischen Nord-Tour nach Büsum, wo Reisende über den mit Kohl gefüllten Tellerrand hinausschauen.

Im Hafen dümpeln Fischkutter und zerren an haltenden Tauen. Kreischende Silbermöwen begleiten einen Lastkahn, der mit wummerndem Motor vorbeizieht. Am Kai wartet Momme Clausen. „Kommt, wir gehen rüber zum alten Hafen“, ruft er. Das „Becken I“ wurde vor mehr als  20 Jahren zum Museumshafen umfunktioniert und ist für den beleibten Fischer ein offenes Heimatbuch. Wenn einer die Geschichte der Fischerei und Geschichten von Meer und Seefahrt kennt, dann er. Als er von Kapitänen und Stürmen erzählt, nestelt er eine Handvoll Krabben aus der Hosentasche. Momme liebt Krabben, hat beim Pulen den richtigen Dreh raus und isst sie mit Genuss. „Ist der Panzer auch schön knackig, ist die Krabbe ganz schnell nackig“, hat er gelernt. Im Meeresmuseum zeigt er, wie man den Panzer der Garnele knackt, und mit etwas Geschick das nussig schmeckende „Gold der Nordsee“ herausfischt. Ganz schön knifflig.

Es ist Abend geworden. Ebbe hat den Meeresgrund an Büsums 2,5 Kilometer langen Deichpromenade freigegeben. Starr und glucksend breitet sich das weite Watt aus. Austernfischer stochern im Schlick nach Muscheln und Krebse. Für einen Moment scheint die Zeit still zu stehen. Langsam geht die glutrote Sonne auf Tauchstation und verzaubert den Horizont in einen orange-gelben Farbstreifen. Zeit, in einem der originellsten Hafenlokale Büsums vor Anker zu gehen. „Kolles Alter Muschelsaal“ macht seinen Namen alle Ehre. Fast hunderttausend Exemplare zieren Wände und das Mobiliar alter Schule. Seeleute brachten die Meermandeln, Austern und Jakobsmuscheln aus allen Weltmeeren mit nach Hamburg. Sein Großvater habe die ehemalige Fischerkneipe vor 100 Jahren übernommen und die Muscheln sackweise eingekauft,  erzählt Inhaber Karl-Heinz Kolle. Später kamen immer mehr Stücke dazu. Für Kurgäste und Urlauber sei das ein echter Hingucker. Eine 1907 an den Strand gespülte Gallionsfigur wacht im Lokal über Vitrinen mit stolzen Segelschiffe und stilvoll dekorierten Tischen.

Kohlfest Dithmarschen

So vielseitig wie das Wetter an der Waterkant ist auch die Speisekarte. Sauerfleisch von der Wildgans, Auster „Natur“ auf gestoßenem Eis und natürlich die original Büsumer Krabbensuppe werden aufgetischt. Seniorchefin Erika Kollers Schwiegermutter hatte die Suppe 1920 ihrer Familie eingebrockt. Wenn die rüstige Dame von Tisch zu Tisch geht und Gäste begrüßt, darf man sie alles über Land, Leute und Küche fragen. Nur nicht nach dem Rezept für die Krabbensuppe. Das sei ein Familiengeheimnis, sagt sie. „Dat wer ümmer so un dat blifft ok so“ (das war immer so und das bleibt auch so).

ReiseTravel Service

Anreise: Mit der Bahn über Hamburg bis Heide. www.echt-dithmarschen.de - Büsum: www.büsum.de - Schleswig-Holstein: www.nordseetourismus.de

Sehenswert: Die St. Laurentius-Kirche und ihr Geschlechterfriedhof in Lunden sind Zeitzeugen der „Dithmarscher Bauernrepublik“. Die zwischen 1500 und 1700 begrabenen mächtigen Bauernfamilien wollten der Nachwelt als einflussreiche Menschen in Erinnerung bleiben. In Wesselburen befinden sich das Hebbelmuseum www.wesselburen.de und das KOHLosseum www.kohlosseum.de

Unterkunft: Hotel Lindenhof in Lunden www.lindenhof1887.de . In Büsum: Aparthotel Bernstein www.aparthotel-bernstein.de

Restauranttipp: „Kolles Alter Muschelsaal“ in Büsum www.kolles-alter-muschelsaal.de

Probieren: „Büsumer Seehundsfutter“ – Seelachsfilet gefüllt mit Krabben und Räucherlachs sowie Bratkartoffeln plus Salatteller.

Literatur: Nordseeküste – Schleswig-Holstein, Michael Müller Verlag, 18,90 Euro.                                                   

Ein Beitrag mit Fotos für ReiseTravel von Manfred Lädtke.

Manfred LaedtkeUnser Autor lebt und arbeitet in Karlsruhe.

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