Moskau | Russischer Wahnsinn auf Rädern |
Das ‘Red Bull Trans-Siberian Extreme’. Das schon legendäre ‚RBTSE’. Das Ultra-Radrennen. Einmal quer durch Russland. Über zwei Kontinente. Von Moskau nach Wladiwostok!
Red Bull Trans-Siberian Extreme: Von der russischen Hauptstadt ans Japanische Meer. Per Zug 7 Tage. Im Flug 9 Stunden. Auf dem Rad 24 Tage. 7 Zeitzonen. 4 Klimazonen. Hitze und Kälte. Sturm und Regen. Tag und Nacht. 14 Etappen. Das Härteste. Das Längste. Weltrekord.9 287,1 Kilometer. 80 000 akkumulierte Höhenmeter. Durchhalten. Körper und Kopf. Muskeln und Mut. Ehrgeiz und Energie.
Start: Am Kreml in Moskau
10 Extrem-Athleten haben sich qualifiziert und proben den Sieg über sich selbst. Darunter erstmalig zwei Powerfrauen: Thursday Gervais Dubina USA sowie Shangrila Veniegas Grube Rendon - Philippinen
Unter den Herren: Pierre Bischoff/Deutschland, Michael Knudsen/Dänemark, Egor Kuvalchuk/Russland, Adrian O’Sullivan/Irland, Peter Sandholt/Dänemark, Alexey Shchebelin/Russland, Marcelo Florentino Soares/Brasilien, Aske Søby/Dänemark.
Erdumfang 40.070 Kilometer. An der dicksten Stelle. Dieses Etappenrennen allein geht über so gut wie ein Viertel dieser Distanz. In nur einem einzigen Land. Ohne Beispiel. Omsk
Die Meilensteine: Moskau - Nizhni Novgorod - Kazan - Perm - Yekaterinenburg - Tyumen - Omsk - Novosibirsk - Krasnoyarsk - Irkutsk - Ulan-Ude - Chita - Svobodny - Khabarovsk - Wladiwostok.
18.Juli 2017. Der Start mitten in Moskau. Am Kreml. Die 10 Hauptakteure auf ihren Rennböcken strahlen um die Wette und ihre Trikots in allen Regenbogenfarben. Noch. Bis die Riesendistanz, streckenweise der Straßenzustand, die wuselige Verkehrslage, möglicher Wetterumschwung sie vielleicht einholen. Aber am Starttag sehen alle Einflussbedingungen eher gut aus. Schlappe 404 Kilometer. Für alle nicht viel mehr als ein gepflegtes ‚warming up‘.
Das sagen sich auch an die 100 andere Menschen um die 10 rennfahrenden Helden der Extrem-Tour herum. Ein gewaltiger Tross. Eine so eingespielte wie engagierte Mannschaft. Beim dritten Mal in Folge fast schon wie ein verschworener Familienverband. Zum auf- und abbauen. Feintunen und reparieren. Verarzten und massieren. Bekochen und ummuttern. Filmen und Fotografieren. Reportieren und protokollieren. Ermutigen und aufmuntern. Und natürlich fahren und gefahren werden. Die 27 begleitenden VW Mulitivans müssen schließlich auch sicher bewegt werden. Von Ort zu Ort. Als Transporter, Küche, Ambulanz, Werkstatt, Schlafzimmer.
Paul Bruck ist sozusagen der begleitende ‚Gründervater‘ dieses verrückt harten und langen Sport-Wettbewerbs durch’s größte nationale Territorium der Erde. Bis 2013 hatte der Österreicher mit Radrennen gar nicht viel am Hut. Mit Russland schon. Und hier professionell wie persönlich schon Jahrzehnte ganz andere Interessen. Heerscharen von Straßen- und Stadtpolizei, Gouverneursämtern, Bürgermeistern und vielen anderen Offiziellen sind vorgewarnt, wo auch immer die ‚RBTSE‘-Kolonne im Riesenland einfällt. Auch sie garantieren für das Grund-Credo aller Beteiligten ‚Sicherheit und Gesundheit’. Hat perfekt geklappt. Genau wie die so vollmundige wie reichliche Versorgung mit ausgesuchten Speisen und Getränken zwischendurch. Da steht schon gleich ab der ersten ‚RBTSE’ der deutsche Chefkoch Heiko Appenrodt mit seinen sechs einheimischen Küchenhelfern.
Das längste und härteste Ultra-Cycling Straßenrennen der Welt?
Keine Übertreibung. Kein vollmundiger Werbespruch. Einfach mal die beobachten, die fragen, die sich dieser extremen Herausforderung freiwillig gestellt haben. Heftig und oft geprüft von Schlaglöchern und Spurrillen, drängelnden Autos und dröhnendem Verkehrslärm. In der ersten Etappe gestern raus aus dem Moskauer Gewusel bis ins beschaulichere Nizhni-Novgorod am Zusammenfluss von Wolga und Oka. Nach kurzer Nachtruhe geht’s gleich morgens wieder auf’s Rad. Wieder eine 400 Kilometer-Distanz. Alle noch dabei.
Aber schon am zweiten Tag nicht lange: Für eine der beiden Ladys, Thursday aus den USA, war mittendrin schon Schluss. Wie später nach und nach auch für sechs andere Aktive.
Wenigstens die gesammelte Organisations- und Unterstützungsmannschaft kann von den Begleit-Volkswagen eine sanft-hügelige Landschaft genießen. Üppig-grüne Wiesen mit roten, gelben, violetten Pflanzenblüten gesprenkelt, satt-braune Felderflächen. Der Blick geht so weit ins Unendliche, dass es die Augen kaum fassen können. Nur hier und da unterbrochen von Wäldern und ein paar Straßendörfern. Typische alte, geduckte Holzhäuser mit Giebel nach vorn und reich geschnitzten Fensterrahmen. Einige arg verfallen. Aber für hiesige Anwohner ihr Zuhause. Viele sitzen davor auf Kisten oder Hockern. Sie bieten Hausgemachtes oder selbst Gesammeltes aus Wald und Garten an. Wie zum Beispiel die herrlichen Pfifferlinge, die gleich im Riesenkochtopf der mobilen ‘RBTSE’-Küchenbrigade gelandet sind.
Am Baikal See
Meist geht es aber über hunderte von Kilometern schnurgerader Trasse durch das große Nichts. Nichts? Ganz falsch. Da eröffnen sich in endloser Weite nach vorne, hinten, nach rechts und links Landschaftsbilder von unfassbarem, natürlichem Reiz. Da gehen einem die Augen über und der Mund bleibt offenstehen. Ausufernde, bunt-beblumte Wiesen unterbrochen von malerischen Bauminseln. Oder landwirtschaftliche Nutzflächen, so unübersehbar, dass sie nur in mehreren Tagewerken zu kultivieren sind. Da ist zu erahnen, warum Russland 2016 zum Export Weltmeister für Getreide geworden ist.
Wenn während der ersten Tage der Blick schon bis ans Ende der Welt zu reichen scheint, was ist dann erst während der nächsten zwei Wochen in der Unendlichkeit des sibirischen Tieflands zu erwarten. Die Leere und Stille der Tundra. Unberührte Natur pur. Zum frei durchatmen. So unglaublich weit weg von unserer Überzivilisation. Zwischen Nowosibirsk und Krasnoyarsk, blendet plötzlich ein riesiges, blühendes Rapsfeld am Wegesrand. Das Gelb im gleißenden Sonnenlicht wirkt hell und leuchtend, fast wie künstlich. Ein packendes Motiv. Denkt sich auch eine chinesische Kleinfamilie. Ebenso magisch angezogen von diesem Naturschauspiel. Davy, ein Hochschullehrer, seine Frau und Tochter haben schon einige tausend Kilometer in einem brandneuen, heimischen SUV hinter sich. Von Chongching über Harbin immer Weiter hinein nach Russland in Richtung Moskau. Von unserem Extrem-Abenteuer sind sie schwer beeindruckt. Können aber erfolgreich kontern: Für sie soll die Reise in den nächsten 70 Tagen noch viel weiter gehen: über Ost-, West- und Südeuropa nach Afrika und irgendwo von dort zurück ins ‘Reich der Mitte’ - per Schiff. Ein Zufallstreffen von Menschen aus zwei entgegengesetzten Himmelsrichtungen, mitten auf einem Feldweg in der Weite Russlands. Staunen und Freude über dieses einmalig schöne Panorama haben sie zusammengebracht.
Nach 12 Tagen hinter Irkutsk. Raus aus der Kulisse dieser sehenswerten Stadt gehen die starken Steigungen und Neigungen der gut ausgebauten Magistrale auch schon los. Für erfahrene Rennbiker das ideale Terrain. Mittlerweile wird es schwer, welche Etappen der ‚RBTSE‘ die verführerischsten Reize der Umgebungsnatur bieten. Heute muten so manche Abschnitte an wie die berühmte ‚Schwarzwald Hochstraße‘. Dichte Tannenwälder, die zahllose mittelhohe Berge bis hinter den Horizont bedecken. Dann plötzlich eine letzte, entscheidende Kurve: Da breitet er sich majestätisch aus, der größte Süßwassersee der Welt, der russische Stolz, der kristallklare Baikal See. Über 600 Kilometer lang mit wechselnder Breite, bis zu 1.642 Meter tief, 25 Millionen Jahre alt und seit 1996 Weltkulturerbe der UNESCO. In jedem der vereinzelten Dörfer wird die Durchfahrtstraße von Ständen gesäumt, an denen alle Arten von Beeren angeboten werden. Genau wie der heiß geräucherte Omul. Eine Fisch-Delikatesse nur aus diesem See, gleich aus der Hand in den Mund. ‚Kusna‘ - lecker.
Wenn es nicht um Gewinnerlorbeeren ginge, wäre diese Tour eine der schönsten vorstellbaren Urlaubsreisen: das wirkliche Russland mit eigenen Augen, mit allen Sinnen echt erleben. Und wieder lässt es sich in alle Richtungen von der zweispurigen Trasse kaum sattsehen. Diesmal wechseln sich bis über den Horizont reichende, dicht bewaldete Mittelgebirgszüge westeuropäischer Ansicht mit uferlosen Savannen-Flächen ab, die beinahe an ostafrikanische Ausblicke erinnern. Hier ist auch eine Gegend, an der sich tatsächlich Bär und Tiger ‘Gute Nacht’ sagen und die Wölfe heulen.
10.August. Am Ziel. In Wladiwostok. Übersetzt ‘Festung des Ostens’. Unweit der Grenzen zu China und Nordkorea. Und schon wieder eine wahre Perle des spärlich urbanisierten Ostens der Russischen Föderation. Auf einer Halbinsel und einer vorgelagerten Insel malerisch am Ozean gelegen, erstreckt sich die zu Sowjetzeiten ‘verbotene Stadt’ (aus militärischen Sicherheitsgründen) über viele Hügel - ähnlich wie San Francisco auf der anderen Seite des Pazifik. Da laden Uferpromenaden und Strände. Zwei neue Wahrzeichen der Stadt sind zwei Brücken, die nicht nur hohe Ingenieurskunst, sondern auch moderne Nutzarchitektur augenfällig beweisen: die ‘Goldene Brücke’ und die längste Hängebrücke der Welt, hinüber nach ‘Russkij Island’. Genau über die fahren die drei übrig gebliebenen Ultra-Biker die letzten Meter. Pierre Bischoff aus Duisburg wird Zweiter. Den Gesamtsieg holt sich Aleksey Shchebelin aus St. Petersburg. Marcelo Soares aus São Paulo ist über seinen dritten Platz sprachlos und überglücklich.
Auf dieser Riesenreise ist an Superlativen und Schwärmerei kaum vorbeizukommen. Schon einfach aus immer wieder neuer Überraschung. Sibirien ist ein ganzer beeindruckender Kontinent für sich. Und hat doch einen so grimmigen, menschenfeindlichen Ruf. An der Natur kann’s nicht liegen. An den Leuten, die hier verwurzelt sind, auch nicht. An dem, wie der Tisch gedeckt ist, auch nicht. Zugegeben, die gleiche Reise oder hier zu leben in monatelangen Schnee- und Eiszeiten ist schon schwerer vorstellbar. Oder liegt der zweifelhafte Ruf an der gnadenlosen Ausbeutung der schier unerschöpflich natürlichen Reserven in diesem Teil der Welt? Oder an dem Missbrauch so unzähliger Menschen über mehr als die letzten 100 Jahre, um diese für Gewinn und zur Ehre von ‘Mütterchen Russland’ zu bergen?
ReiseTravel Fact: Das ‘RBTSE’-Ultracycling Erlebnis war schlussendlich fast wie eine Freundschaftsfahrt - das Unbekannte, die Einsamkeit in der unergründlichen Weite haben zusammengeschweißt. Über alle Nationalitäten hinweg. Eine Erkundungsfahrt nicht nur durch Russland, sondern genauso für Russland. ‘Dosvidanya’ - ‘Auf Wiedersehen’ und ‘spacibo’ - ‘Danke’ Sibirien - deine Welt ist schön. Jedenfalls schöner als je gedacht. Oder beigebracht.
RBTSE 2018 Red Bull Trans-Siberian Extreme Kontakt via info@most-sport.com
Ein Beitrag mit Fotos für ReiseTravel von Frank Ebbecke.
Unser Autor ist Adjunct Professor, RANEPA – SPP, Russian Presidential Academy - School of Pubic Policy, General Director OOO FE Communications, General Director LISYAMUSIC, Autor „Moskauer Deutsche Zeitung“. www.mdz-moskau.eu - frankebbecke.aol.com
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