Berlin | Drehorgel Leierkasten |
Lieber Leierkastenmann, fang noch mal zu spielen an, doch wie lange noch
Aussterbendes Kulturgut: Die Zahl der Drehorgelbauer, der Fabrikanten der Drehorgelwalzen und die Zahl der Leierkastenmänner oder Leierkastenfrauen sind wirklich Exoten, was deren Anzahl angeht, schrumpft kontinuierlich. Seit über einem Dutzend Jahren dreht der Berliner Lothar Kindler (76) an seiner Orgel.
Der Musiker Willi Kollo lebte von 1904 bis 1988 und vom ihm stammt der Text als auch die Melodie vom „Lieber Leierkastenmann.“ In dem Lied, das auch Hildegard Knef vortrug, heißt: „Lieber Leierkastenmann, fang noch mal von vorne an“. Nun ist das mit dem „Anfangen“ immer schwieriger, denn es scheint so, als verlangen die hiesigen Jugendlichen eher nach Smartphone als nach dem Drehorgelspieler.
Lothar Kindler Der im Bezirk Reinickendorf wohnende Leierkastenmann hat auf seiner Visitenkarte stehen: „Der Mann für alle Feste. Spaß, Stimmung, gute Laune für Jung und Alt.“ Das muss der User wörtlich nehmen! Lothar Kindler hat nicht nur bei Hochzeiten, Tauffeiern, Jugendweihen und religiösen Festen wie Kommunion und Konfirmation oder bei Straßenfesten und Firmenjubiläen seine Zuhörer begeistert, der Drehorgelspieler ließ sein fahrbares Instrument auch schon bei Beerdigungen erklingen. „In diesen Fällen hatten sich die Verstorbenen das zu Lebzeiten gewünscht, einer hatte das sogar notariell festhalten lassen. Ich gestehe aber offen und ehrlich, so ganz wohl war mir nie im Bauch gewesen bei den wenigen Beerdigungen, die ich musikalisch begleitet habe.“
Der gelernte Binnenschiffer, der seit seinem „Weggang von Bord aufgrund des Ruhestandes sich einen Reisegewerbeschein und eine Drehorgel anschaffte“ spielt viel lieber bei fröhlichen Feiern wie Hochzeiten auf. Da hat er eine Begebenheit zu erzählen, die er mit halbem Lachen und halbem Scham dem Redakteur anvertraute. Zu einer Hochzeit spielte er 2003 auf. Dieses Eheglück hielt nicht einmal die berühmten „verflixten sieben Jahre.“ Die Ex Braut rief an und vereinbarte mit Lothar Kindler einen Termin zu ihrer 2. Hochzeit. Der Berliner mit dem Herz am rechten Fleck sagte am Hochzeitstage zu der Braut, sie möge „sich keine Sorgen machen. Sollte auch diese Ehe schiefgehen, spiele ich halt auch zur 3. Hochzeit auf.“ Er selber muss immer noch lachen, wenn er an diese Begebenheit zurückdenkt, obwohl ihm damals die Worte sehr peinlich waren.
Gar nicht zum Lachen ist dem Drehorgelspieler, wenn er an seine Zunft denkt. „Wir haben einen eigenen Verband, in dem die Drehorgelspieler sich schon vor Jahrzehnten zusammengetan haben. Leider sinkt die Mitgliederzahl kontinuierlich. Selbst wenn jemand zu uns stößt, zwei verabschieden sich aufgrund des Alters oder weil sie verstorben sind.“
Urberliner können sich bestimmt noch erinnern, in der Pankower Schönhauser Allee war eine Drehorgelfabrikation angesiedelt. Der Meister trug einen italienischen Namen, da seine Vorfahren aus dem Alpenland stammten und baute zu Zeiten der DDR wohlklingende Drehorgeln. Kurz nach der Wende verstarb der international bekannte Orgelbauer, einen Nachfolger gab es nicht. Lothar Kindler weiß zu berichten: „In Berlin Biesdorf ist noch ein hoch anerkannter Drehorgelbaubetrieb angesiedelt. Wissen Sie aber, was heute eine neue Drehorgel mal so eben kostet?“ Das Berliner Original gibt auch gleich die Antwort: „Ab 17.000 Euro fängt das Preisgefüge an. Wer kauft sich da heutzutage noch eine neue Drehorgel?“
Zieht sich ein Leierkastenmann zurück, ist seine Drehorgel heiß begehrt, da die gut gebrauchte wesentlich billiger zu erstehen ist als die Neuanschaffung. „Sie müssen auch wissen, eine Walze kostet ab 800 Euro aufwärts. Produziert werden sie neu gar nicht mehr in Deutschland. Man muss nach Holland fahren, wenn es neue Walzen sein sollen.“ Auf einer Walze sind zwischen 6 bis 8 Lieder angesiedelt. Die wenigen Walzenbauer geben die Lieder vor, die sich auf einer Walze befinden. Natürlich kann der Kunde individuelle Wünsche kundtun, das sind aber „sehr teure Einzelstücke, die ungefähr das zehnfache der Standartwalze kosten.“ Hier sieht der Berliner das große zukünftige Problem. Der Walzenbauer in Holland legt sich bei der Produktion auf Lieder fest, die sowohl in Australien, den USA und in europäischen Ländern bekannt sind.
Typische Lieder mit Bezug zu Berlin wie „Im Grunewald ist Holzauktion“, „Bolle wollte jüngst zu Pfingsten“, „Das ist der Frühling von Berlin“, „Im Ballhaus ist Musike“, „Komm Kalinechen, komm, wir wolln nach Pankow gehn“, „Es war in Schöneberg im Monat Mai“ und nicht zu vergessen die „Berliner Luft“ sind außerhalb Berlins oder Deutschlands viel zu unbekannt, als dass sie in Chicago, London oder Perth gespielt werden würden. Der holländische Walzenproduzent kann aus Kostengründen keine Ausnahme für die Berliner Drehorgelspieler machen und ihnen Walzen mit Berlin Liedern zum selben Preis anbieten wie Lieder auf der Walze, die aus Musicals stammen, die jeder kennt. Also sind beispielsweise Songs wie das vom Milchmann Tevje „Wenn ich einmal reich wär“ oder Liza Minnellis „Cabaret“ zu hören auf den internationalen Walzen und Elvis mit „Love me tender“ sowie Frank Sinatras „New York, New York.“
In Deutschland ist das Drehorgelspielen überall erlaubt, so der Reisegewerbeschein im Besitz des Leierkastenmannes ist. Lothar Kindler weist auf die einzige Ausnahme in Deutschland hin. „Bei den Bayern ist in deren Landeshauptstadt München das Drehorgelspielen verboten. Das Argument der Stadtväter ist, die Ruhe werde gestört durch die Musik.“ Bis nach München zieht es den Reinickendorfer sowieso nicht. Er ist nur in seinem Kiez unterwegs, ganz selten einmal zu überregionalen Festen im Bundesland Brandenburg wie beim Baumblütenfest in Werder an der Havel. Er hat Stammplätze, dazu zählt am Freitag das Standesamt Reinickendorf. Unter dem in den oberen Stockwerken des Rathauses gelegenen Standesamtes hat Baustadtrat Martin Lambert (CDU) seine Diensträume im Erdgeschoss. „Als er 2009 sein Amt antrat, hatte ich befürchtet, er fühlt sich durch meine Musik gestört. Herr Lambert kommt aber jeden Freitag zu mir und begrüßt mich freudig.“
Der Bezirksstadtrat sagte: „Wenn es die Umstände erlauben, pfeife oder singe ich im Büro sogar das ein oder andere Berliner Lied mit. Kommt Herr Kindler mal aus urlaubs- oder Krankheitsgründen nicht zum Rathaus, fehlt mir etwas.“
Die Drehorgel ist nicht nur einfache Erzeugung von Musik, es ist ein unverwechselbarer Teil der Berliner Volkskunst, wenn auch mit immer geringer Akzeptanz. Der Leierkastenmann hat feste Auftritte in Seniorenheimen. „Die älteren Herrschaften kennen noch die Zeiten, wo der Leierkasten in die Hinterhöfe kam, meist hatte der Musikant einen Affen an der Drehorgel festgebunden.“ Aus Tierschutzgründen sind Affen schon seit Jahrzehnten vom Leierkasten verbannt worden. Die Senioreneinrichtungen buchen den Drehorgelspieler und der freiberufliche Künstler stellt eine Rechnung dem Betreiber der Einrichtung aus. Kinder sind noch für die Drehorgel zu begeistern, sie wollen gerne auch mal an der Kurbel drehen, jedoch die Jugendlichen und die Generation bis Mitte 30 Lenzen weiß die Musik der Drehorgelspieler kaum zu schätzen. Dabei ist „die Drehorgel ebenfalls ein wichtiger Teil unserer Kultur“, so die Reinickendorfer Kulturstadträtin Katrin Schultze–Berndt. Das sieht auch Lothar Kindler so. Für ihn „gibt es nichts schöneres, als in glückliche Kinderaugen zu sehen und ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger zu hören, wenn sie dankbar sagen: „Lieber Leierkastenmann, fang doch noch mal von vorne an“, Drehorgelspieler Lothar Kindler, Tel.: 0170–613 52 09.
ReiseTravel Fact: Die Drehorgel gehört zu Berlin wie die Currywurst. Es ist nun einmal so, alles hat einmal ein Ende, wie halt die Wurst, obwohl die ja drei Enden hat. Zwei Enden an der Wurst, wird sie verspeist, ist es das 3. Ende! In vielleicht 2 bis 3 Generationen kennen die Menschen den Leierkastenmann nur noch aus Erzählungen. Dann ist es der Drehorgel so ergangen wie einst dem Grammophon, dem Videorekorder, der Schallplatte und dem Münzfernsprecher sowie dem Musikautomaten.
Ein Beitrag mit Foto für ReiseTravel von Volker T. Neef.
Unser Autor berichtet aus der Bundeshauptstadt und ist in Berlin wohnhaft.
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